Mit 70 im Berghain

Peter Schneiders Berlin-Buch „An der Schönheit kann’s nicht liegen“ ist eine Liebeserklärung an seine Wahlheimat

Thomas Claer

schneiderNein, als Schönheit im eigentlichen Sinne kann man unsere Kapitale nun wirklich nicht bezeichnen. „Berlin ist das Aschenputtel unter Europas Hauptstädten“, heißt es in Peter Schneiders vor kurzem erschienenen „Porträt einer unfertigen Stadt“, „und doch will jeder dorthin.“ „Wenn ich in New York, Tel Aviv oder Rom auf die Frage eines Einheimischen, woher ich komme, den Namen Berlin ausspreche, tritt unversehens Neugier, ja Begeisterung in die Augen des Fragenden.“ Und immer wieder aufs Neue, soviel steht fest, kann sich auch der Autor dieses Buches für seine Stadt begeistern, in der er seit mehr als einem halben Jahrhundert lebt und deren besonderer Magie er nun auf den Grund zu gehen verspricht.

In jungen Jahren gehörte Peter Schneider, Jahrgang 1940, als charismatischer Sprecher der Westberliner Studenten zu den Galionsfiguren der 68er Bewegung, gleich nach Rudi Dutschke sozusagen. Anschließend – nach ausgedehntem Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie – wollte er eigentlich Lehrer werden, doch als Referendar erteilte man ihm 1973 wegen angeblicher linksradikaler Umtriebe Berufsverbot. Wie das damals, in jenen wilden Zeiten, eben so war … Stattdessen veröffentlichte Schneider die von Georg Büchner inspirierte Erzählung „Lenz“, die unversehens zum Kultbuch seiner Generation wurde. Und so kam es also, dass Peter Schneider hauptberuflich Schriftsteller geworden ist. Sein „Lebensthema“, wie er selbst sagt, hat er dabei vor allem in seiner Wahlheimatstadt Berlin gefunden. Es begann mit der Erzählung „Der Mauerspringer“ (1982), in welcher Schneider den Begriff der „Mauer im Kopf“ prägte, der später zum geflügelten Wort werden sollte. Unter anderem gelangte er in diesem Werk zum prophetischen Befund, dass die „Mauer in den Köpfen“ wohl noch weitaus länger Bestand haben werde als jene aus Beton.

Nach der Wende befeuerte Peter Schneider dann mit seinen erfolgreichen Berlin-Romanen „Paarungen“ (1992) und „Eduards Heimkehr“ (1999) den literarischen Hauptstadt-Hype: Vor allem „Paarungen“, das damals auch im „Literarischen Quartett“ abgefeiert wurde, ist sehr gelungen und lässt sich, wenn man so will, als Charlottenburger Gegenstück zu Sven Regeners 80er Jahre-Kreuzberg-Roman „Herr Lehmann“ lesen. Der Held der Geschichte, Eduard Hoffmann, ein Molekularbiologe in den Vierzigern, trifft regelmäßig in einer Charlottenburger Intellektuellenkneipe seine Kumpels (darunter einen mit „Doppelpass“ versehenen Ostberliner Schriftsteller, für den wohl Heiner Müller Pate gestanden hat) und diskutiert mit ihnen ausgiebig sowohl die große Weltpolitik als auch private Frauengeschichten. Eduard ist nämlich seit drei Jahren mit seiner schönen Freundin liiert, die sich nun aber nachdrücklich ein Kind von ihm wünscht. Sein hedonistisch-libertäres Lotterleben gerät somit in Gefahr. Doch trotz Verzichts auf Verhütungsmaßnahmen will sich bei Eduards Freundin keine Schwangerschaft einstellen. Eduard lässt sich beim Urologen untersuchen und bekommt seine Zeugungsunfähigkeit aufgrund zu geringer Spermienzahl attestiert. Daraufhin sorglos geworden lässt sich Eduard parallel zu seiner Hauptbeziehung auf Affären mit gleich zwei anderen attraktiven Damen ein, darunter einer Italienerin, mit der er im Sommer die Schäferstündchen in einem abgelegenen Winkel direkt an der Mauer verbringt. Doch völlig überraschend werden beide Frauen kurz nacheinander von ihm schwanger. Grund für Eduards unerwartete Produktivität könnte, so seine Ärzte, der selten beobachtete Fall der „Spermienkonkurrenz“ sein, bei dem aufgrund der besonderen Wettbewerbssituation angesichts mehrerer Sexualpartner die eigentlich bereits fast zum Erliegen gekommene Spermienproduktion noch einmal hochgefahren wird. Eduard entscheidet sich schließlich nach diversen zwischenmenschlichen Dramen für eine seiner bisherigen Nebenfreundinnen und gründet mit ihr – worauf er eigentlich gar nicht so scharf war – eine Kleinfamilie. Die Hauptfreundin hat ohnehin längst das Weite gesucht, die andere Nebenfreundin treibt ab.

Die Fortsetzung der Geschichte ist dann der nach dem Mauerfall spielende Roman „Eduards Heimkehr“. Eduard kommt mit seiner Familie nach einigen Jahren in den USA zurück ins wiedervereinigte Berlin und erkennt seine Stadt kaum noch wieder. Überdies hat er ein Mietshaus in der Rigaer Straße in bester Friedrichshainer Szenelage geerbt, das jedoch von Autonomen besetzt ist. Sein Anwalt, der zugleich sein alter Kumpel ist, muss ihn, was die Hausräumung und die Generierung von Mieteinnahmen angeht, immer wieder vertrösten, doch räumt er Eduard angesichts des gewaltigen Potentials der Wohnlage Zahlungsaufschub in voller Höhe für seine Anwaltsrechnungen ein. Inkognito nimmt Eduard an einer Versammlung der autonomen Hausbesetzer teil und muss sich dabei eingestehen, dass er die schwarz gekleideten jungen Damen unter ihnen mit ihren Mund- und Nasenpiercings außerordentlich reizvoll findet. Ferner liest er auf einer S-Bahn-Fahrt in der BILD-Zeitung seines Sitznachbarn die Überschrift, dass Ost-Frauen einer wissenschaftlichen Studie gemäß angeblich häufiger als West-Frauen einen Orgasmus bekommen. Und Eduard beginnt, na was schon, eine Affäre mit einer Ost-Frau. Indessen klagt Eduards Frau darüber, dass sie schon seit Jahren keinen Orgasmus mehr erlebt habe. Sie kann dieses Ziel, so glaubt sie, nur noch beim Sex an extrem gefährlichen Orten aufgrund des damit verbundenen Nervenkitzels erreichen. Nach zahlreichen gescheiterten Versuchen an verschiedensten Plätzen erleben Eduard und seine Frau schließlich doch noch den erlösenden Moment in über hundert Metern Höhe auf einer Baustelle am Potsdamer Platz.

Auf einen weiteren Berlin-Roman von Peter Schneider haben wir seitdem allerdings vergeblich gewartet. Stattdessen präsentiert uns der Autor nun seine gesammelten Ansichten über Berlin in einem 330 Seiten starken Stadtporträt, das aus Essays, Berichten, Reportagen, historischen Betrachtungen und autobiographischen Schilderungen besteht. Es liest sich alles sehr gut. Manches überfliegt man nur, weil man es schon zur Genüge kennt (das ist dann mehr etwas für Berlin-Neulinge), anderes ist selbst für den langjährigen Berlin-Bewohner noch von großem Interesse. Als roter Faden zieht sich ein Zitat des großen Publizisten Wolf Jobst Siedler durch das Buch: „Sie werden sich immer wieder zwischen der Schönheit eines Ortes und seiner Lebendigkeit entscheiden müssen.“ Klar, Berlin ist in erster Linie lebendig. „In schönen, perfekt restaurierten und teuren Städten fühlt sich der junge Besucher ausgeschlossen.“ Doch „Berlin gibt jedem Ankömmling das Gefühl, dass er hier noch eine Lücke finden und etwas auf die Beine stellen kann. Es ist diese Eigenschaft Berlins, die die Stadt heute zur Hauptstadt der Kreativen aus aller Welt macht.“ Aber wie jeder weiß, ist gerade dieses Berliner Alleinstellungsmerkmal akut bedroht: „In zehn oder 15 Jahren wird Berlin so teuer sein wie New York oder London.“

Eine besondere Vorliebe hat der Autor für die Architektur, die Erotik und die Soziologie. So hat er die Ossis und Wessis in seinem Bekanntenkreis jahrelang sehr genau beobachtet und befragt und daraus eine plausible Theorie zur Erklärung der größeren Orgasmushäufigkeit bei den Ost-Frauen entwickelt: „Die DDR-Frau war berufstätig, ökonomisch unabhängig, selbstbewusst und scheidungsfreudig.“ Sie sah „ihren männlichen Partner nicht als einen Feind, sondern als einen Partner, der ihr ökonomisch wenig oder nichts voraushatte.“ Der Ost-Mann allerdings konnte sich im DDR-Alltag „nicht mit Privilegien schmücken, die ihm ein Machogehabe gestatteten. Mit Geld, schnellen Autos und einem Haus auf Ibizza konnte er nicht protzen. Er war auf seine eventuellen Begabungen als Liebhaber und auf seine Qualitäten als Vater und Partner angewiesen.“ Und daraus folgt: „Die DDR-Frau suchte nicht den zukünftigen Versorger, wenn sie einen fremden Mann auf einen Wein mit nach Hause nahm. Sie war auf einen guten Liebhaber aus und brach das Abenteuer alsbald wieder ab, wenn sie enttäuscht wurde.“

Bemerkenswert ist weiterhin, was Peter Schneider über die „Ost-West-Paarungen“ seit der Wende herausgefunden hat: „Die Paarung Ostfrau/Westmann ist siebenmal häufiger anzutreffen als die umgekehrte Konstellation.“ Das ist natürlich kein Wunder, denn die selbstbewussten Ostfrauen, denen die Idee völlig fremd ist, sich von einem Mann ökonomisch aushalten zu lassen, gefallen vielen Westmännern nun einmal besser als die oft verbissen feministischen, aber seltener berufstätigen Westfrauen. Dagegen legen die Ost-Männer laut Schneider tendenziell nur wenig Wert auf ihr Äußeres, trinken zu viel und duschen zu selten. Noch als Fünfzig- oder Sechzigjährige verdienen sie nicht gut, denn ihnen fehlt die Fähigkeit, ihre Talente auf dem Markt anzupreisen. Immerhin verrichten sie mehr Hausarbeit als die Westmänner, doch kommen sie nach den Maßstäben der Westfrauen alles in allem für diese kaum in Frage. „Dennoch hat der Ostmann eine Chance: Sie betrifft die alleinstehende und von der Männerwelt enttäuschte Westfrau, die sich nach endlosem und schließlich unheilbarem Streit von dem Ernährer ihrer Kinder getrennt hat. Der Ostmann bietet sich ihr in dieser Situation als guter Kamerad an, er tröstet sie. … Es macht ihm nichts aus, die Kinder der Westfrau morgens in die Schule zu bringen oder sie im Kinderwagen stundenlang durch den Park zu schieben. Solidaritätsgewohnt schließt er diese nicht selten krass verwöhnten Kinder in seine Zuneigung ein, macht mit ihnen Hausaufgaben und erweist sich als geduldiger Spielkamerad. Vorsichtig – und nur in Abwesenheit der Mutter – versucht er ihnen ein Minimum an Erziehung zukommen zu lassen. Nach langer und bestandener Probezeit öffnet ihm seine westliche Geliebte endlich die Tür zu ihrem Schlafzimmer.“

Als Kommentator des politischen Geschehens hat Peter Schneider seine revolutionären Anfänge selbstverständlich schon seit Jahrzehnten weit hinter sich gelassen. Wie auch viele andere „Renegaten“ seiner Generation legt er sich besonders vehement ins Zeug, wenn es darum geht, gutgemeinte linke und linksradikale Bestrebungen zu kritisieren. Doch tut er das glücklicherweise zumeist mit Augenmaß und viel gesundem Menschenverstand. Immer wieder warnt er vor zu viel politischer Korrektheit. Man solle doch bitte die Probleme zuerst einmal beim Namen nennen, um sie dann später hoffentlich irgendwann lösen zu können. So dürfe man weder vor dem in Ostdeutschland deutlich stärker als in Westdeutschland verbreiteten Rechtsextremismus die Augen verschließen noch vor der besonders hohen Kriminalität und Gewaltbereitschaft unter jungen männlichen religiösen Muslimen in europäischen Großstädten.

Zu bemängeln sind an diesem Buch allenfalls ein paar geringfügige Fehler und Ungenauigkeiten: So muss es z.B. „Rosenthaler Platz“ statt „Rosenheimer Platz“ heißen, und der Kissingenplatz, wo Schneiders Freund, der Dramatiker Heiner Müller, einst wohnte, liegt genau genommen nicht in Prenzlauer Berg, sondern schon im angrenzenden Pankow. Weiterhin nehmen die vielen kleinen Eitelkeiten des Autors hin und wieder doch etwas Überhand, etwa das ausufernde „Namedropping“, wenn es um die zahlreichen Freundschaften des Verfassers mit allen möglichen Prominenten geht. Und schließlich kann es sich der Autor auch nicht immer ganz verkneifen, seine offensichtlich ganz außerordentliche Wirkung auf Frauen zu erwähnen. Sogar im legendären Nachtclub „Berghain“, den er noch im Alter von ca. 70 Jahren aus Recherchegründen besucht hat (sicherheitshalber nicht ohne sich zuvor auf die Gästeliste setzen zu lassen, um nicht vom gefürchteten Türsteher abgewiesen zu werden), wird er, kaum dass er die Tanzfläche betreten hat, unversehens von einer etwa 30-jährigen Dame geküsst. Als Schneider dies später voller Stolz seinem erwachsenen Sohn berichtet, meint dieser, dass dies sicherlich an den dort von fast allen Besuchern exzessiv eingeworfenen Drogen gelegen habe, woraufhin der Autor aber entgegnet, dass Drogen doch nur Gefühle verstärkten, die ohnehin vorhanden seien…

Peter Schneider
An der Schönheit kann’s nicht liegen. Berlin – Porträt einer ewig unfertigen Stadt
Verlag Kiepenheuer & Witsch
330 Seiten, EUR 19,99
ISBN-10: 3462047442

Veröffentlicht von on Jun 22nd, 2015 und gespeichert unter DR. CLAER EMPFIEHLT. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Sie können eine Antwort durch das Ausfüllen des Kommentarformulars hinterlassen oder von Ihrer Seite einen Trackback senden

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