Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen
Liebes Tagebuch,
fünf Freunde waren wir, die im Jurastudium durch dick und dünn gingen, und das schon vom 1. Semester an. Alle fünf waren wir neu in unserem Universitätsstädtchen, das die Einheimischen erstaunlicherweise als Metropole bezeichneten, und keiner von uns hatte (zunächst) eine Freundin, so dass wir auch irgendwie aufeinander angewiesen waren. Nun wohnte aber einer von uns in seiner WG mit zwei Mädchen zusammen, die ebenfalls in unserem Semester waren. Und langsam, aber sicher begannen die beiden, sich auch ein wenig mit uns Fünf anzufreunden. An mehr war natürlich nicht zu denken, beide hatten ja einen Freund im jeweiligen Heimatort, den sie an den Wochenenden regelmäßig besuchten.
Doch schon nach dem ersten Semester wechselte eine der Mitbewohnerinnen überraschend die Uni, woraufhin sich die andere der beiden, eine Deutschtürkin, die aus einer niedersächsischen Kleinstadt stammte und ein völlig akzentfreies, ja geradezu brillantes Hochdeutsch sprach, noch enger mit uns anfreundete. Der Vollständigkeit halber sollte ich noch erwähnen, dass unsere neue Freundin, die den schönen Namen V. trug, ringsumher als außergewöhnlich attraktiv wahrgenommen wurde. Man kann sogar sagen, dass wir alle ziemlich verknallt in sie waren. Und noch dazu war sie keinesfalls eingebildet und hatte nichts mit den berüchtigten chronisch aufgedonnerten Jura-Zicken gemein. Wir waren schon ein komisches Fünf-plus-eins-Gespann, und viele fragten sich wohl, warum sich eine so anziehende Person wie V. ausgerechnet mit uns abgab.
Immerhin hatte V. durch uns manche Annehmlichkeiten. Stets war mindestens einer von uns behilflich, wenn sie etwas brauchte. Doch brachte diese Konstellation auch uns eine Menge Vorteile. Beim Hausarbeitenschreiben schickten wir immer, wenn wir nicht mehr weiterwussten, V. zum Spionieren in die anderen Lerngruppen. Und sie enttäuschte uns nie, schon nach kurzer Zeit kehrte sie mit heißen Tipps zu uns zurück. Niemals hätten die Jura-Cracks unseres Semesters mir oder einem meiner männlichen Freunde ihre Lösungsskizzen anvertraut. Aber wenn V. bei ihnen aufkreuzte, erlagen sie augenblicklich ihrem Charme und verrieten ihr alles, wonach sie begehrte.
Abwechselnd verabredete sich V. mal mit dem einen, mal mit dem anderen von uns zum Mensaessen oder zum gemeinsamen Besuch einer Arbeitsgemeinschaft. Ich erinnere mich noch gut daran, dass ich zeitweilig immer einen Stuhl für sie freigehalten habe, wenn die Sitzplätze im AG-Raum knapp wurden. Erschien sie dann endlich mit leichter Verspätung, dann erntete ich beinahe ehrfürchtige Blicke meiner Kommilitonen, wenn sie sich zielstrebig auf den Platz neben mir setzte.
Dem durchaus engen Verhältnis zum Trotz, das V. zu jedem von uns Fünf unterhielt, ließ sie doch nie einen Zweifel an ihrer unbedingten Treue zu ihrem Hauptfreund in ihrer niedersächsischen Heimatstadt aufkommen. Irgendwann überraschte sie uns dann mit der Ankündigung, am kommenden Wochenende nicht wie sonst nach Hause fahren zu wollen, sondern den erstmaligen Besuch ihres Freundes an unserem Studienort zu erwarten. Wir hatten uns ihren Freund immer als eine Art Supermann vorgestellt, als einen großen, breitschultrigen und sehr maskulinen Typen, dazu ungemein selbstbewusst, eloquent und intelligent. Doch wie staunten wir, als wir dann seine Bekanntschaft machten. Er war eher klein, regelrecht schüchtern und schien es irgendwie unangenehm zu finden, uns zu treffen, kurz er erschien uns geradezu als einer wie du und ich.
Jedenfalls spricht es für V., dass sie ihrem Heimatfreund viele Semester lang die Treue gehalten hat. So lange, bis niemand mehr damit rechnete, dass sich daran jemals etwas ändern könnte. Selbstverständlich gab es immer wieder Kommilitonen, die es erkennbar auf V. abgesehen hatten. Manche suchten sogar gezielt den Kontakt zu mir oder meinen männlichen Freunden, um sich so besser an V. heranmachen zu können. Aber sie alle bissen sich an ihr die Zähne aus, V. war die Tugend selbst. Zumindest glaubte ich das bis zu einem verstörenden Erlebnis, von dem ich später noch berichten werde…
Dein Johannes