Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen
Liebes Tagebuch,
eigentlich war unsere türkischstämmige Studienfreundin V. gar nicht so anders als wir, ihre fünf herkunftsdeutschen männlichen Freunde. Aber in einer Hinsicht unterschied sie sich dann doch von uns. V. war nämlich, wenn es um das Heimatland ihrer Eltern ging, gelinde gesagt, eine glühende Patriotin. Als damals, in den Neunzigern, ständig über die Unterdrückung der kurdischen Minderheit in der Türkei und den Terror der PKK berichtet wurde, kommentierte V. das mit den Worten: „Wer soll das denn überhaupt sein: die Kurden? Ich kenne keine Kurden, ich kenne nur Bergtürken!“ Das war, wie ich später gehört habe, ein Zitat eines früheren türkischen Ministerpräsidenten, den man mit Fug und Recht auch als einen Diktator bezeichnen könnte. Heute denke ich, wir hätten zu V. daraufhin sagen sollen: „Und wir kennen keine Deutschtürken, wir kennen nur Problembezirks-Deutsche mit chauvinistischen Ansichten.“ Wobei V. gar nicht aus einem Problembezirk kam, sondern aus einer niedersächsischen Kleinstadt, aber die Kurden wohnen ja auch nicht alle in den Bergen…
Einige Semester später hatte V. plötzlich eine allerbeste Freundin, und zwar ausgerechnet eine kurdischstämmige Kommilitonin namens J. Man konnte J., ebenso wie unsere und ihre Freundin V., nur als außerordentlich attraktiv bezeichnen. Die beiden waren schon nach kurzer Zeit so eng miteinander befreundet, dass man hierfür schon fast einen bestimmten Begriff verwenden könnte, den ich mir allerdings lieber verkneife, weil er bei ihnen gewissermaßen eine augenfällige und greifbare leibhaftige Entsprechung hätte… Es muss damals, wenn ich mich richtig erinnere, die Zeit gewesen sein, als V. sich, was niemand mehr für möglich gehalten hätte, von ihrem Freund getrennt hatte und mindestens ein Semester lang als Single dastand, obwohl es doch ganz bestimmt genügend Verehrer gegeben hätte, aber V. ließ sich Zeit… Auf einer Party im Studentenwohnheim sah ich dann zu weit vorgerückter Stunde die beiden Freundinnen V. und J. in inniger Umarmung auf ihren Barhockern sitzen. Offensichtlich hatten beide schon so viele alkoholische Getränke zu sich genommen, dass es fraglich erschien, ob sie sich am nächsten Morgen noch an die Ereignisse dieser Nacht würden erinnern können. Und ich traute meinen Augen kaum: Die beiden orientalischen Schönheiten begannen, einander leidenschaftlich und ausdauernd auf den Mund zu küssen. Es war ein, vorsichtig gesagt, verstörender Anblick. Nun stelle man sich, nur als Gedankenexperiment, einmal vor, wie es auf Frauen wirken würde, wenn zwei Männer sich vor ihren Augen küssten: Entweder sie wendeten sich ab oder es wäre ihnen egal, aber ganz sicher würden sie dieses Schauspiel in keiner Weise erregend finden. In der umgekehrten Konstellation, in der ich mich damals wiederfand, kann das jedoch anders aussehen… Ich vermag nicht sicher zu sagen, ob meine beiden Kommilitoninnen es bemerkt haben, dass ich sie bei ihrem merkwürdigen Treiben beobachtete. Wohl eher nicht, denn dafür waren sie zu sehr mit sich selbst bzw. miteinander beschäftigt. Es war ja auch nur ein relativ kurzer Moment, aber er wird mir für immer unvergesslich bleiben.
Nun muss ich erwähnen, dass ich zu jener Zeit schon längst nicht mehr Single war. Und selbstverständlich erzählte ich meiner damaligen Freundin, die heute seit 17 Jahren meine Frau ist, von dem für uns alle sehr amüsanten Umstand, dass V., die sich früher so herablassend über die Kurden, die „Bergtürken“, geäußert hatte, inzwischen ausgerechnet eine Kurdin als beste Freundin hatte. Ich dachte mir nichts weiter dabei, als ich es ihr erzählte. Und auch meine damalige Freundin und heutige Frau, die vom anderen Ende der Welt stammt und damals zunächst nur als Austauschstudentin in Deutschland weilte, dachte sich nichts weiter dabei, als sie irgendwann auf einer Party mit V.s kurdischer Freundin J. ins Gespräch kam und zu ihr sagte: „Also du bist eine … Bergtürkin?“ Und dann nahm die Katastrophe ihren Lauf. J., die ein feuriges Temperament besaß, fragte empört: „WER hat DAS gesagt?“ Die ehrliche, aber fatale Antwort meiner damaligen Freundin und heutigen Frau lautete: „V.“ Und damit war, wenn ich richtig informiert bin, das Ende der wunderbaren Freundschaft zwischen meinen Kommilitoninnen V. und J. besiegelt.
Und nicht nur das. Mein Freund S. kam später in heller Aufregung zu mir gelaufen und beschimpfte mich als einen Vollidioten. Er konnte sich gar nicht wieder beruhigen. Er erklärte mir, er habe mir doch nur unter dem Siegel der Verschwiegenheit davon erzählt, dass V. die Kurden als Bergtürken bezeichnet habe. Und ich hätte es einfach zu meiner Freundin weitergetratscht. Wie stehe er denn vor V. jetzt da?? Ich wusste nun tatsächlich nicht mehr so genau, ob ich es damals von V. selbst oder doch nur von meinen Freunden gehört hatte. Es lag ja auch schon einige Semester zurück. Konkret erinnerte ich mich aber zumindest daran, dass ich mich noch vor kurzem mit meinem Freund S. darüber kaputtgelacht hatte, dass ausgerechnet V., für die bekanntlich die Kurden „Bergtürken“ waren, nun eine kurdische beste Freundin hatte. Mein Freund S. bestand darauf, dass er mich zur unbedingten Verschwiegenheit aufgefordert hätte. Ich wollte das zwar nicht ausschließen, konnte mich aber beim besten Willen nicht daran erinnern…
Die Folge dieser Ereignisse war, dass das Verhältnis zwischen uns allen deutlich abkühlte. Ich ging zu V., um mich bei ihr zu entschuldigen. Ich sagte ihr, ich hoffte nicht, dass ich nun gewissermaßen einen Keil zwischen sie und ihre Freundin J. getrieben hätte. V. verneinte dies höflich, aber ihr Gesicht sagte etwas anderes. Vor allem war wohl auch mein Freund S. bei unserer Freundin V. „untendurch“, weil er es gewesen sein sollte, der mir das mit den „Bergtürken“ weitererzählt hätte. Mein Verhältnis zu meinem Freund S. kühlte sich ebenfalls stark ab. Auch die Verbindung zu den anderen dreien meiner vier Studienfreunde hatte sich inzwischen beträchtlich gelockert, zumal einer von ihnen nun seinerseits eine Freundin hatte. Über die beiden übrigen werde ich später noch Brisantes zu berichten haben… Jedenfalls wendete ich mich – je näher unser Studium seinem Ende zuging, desto ausschließlicher – meiner Freundin zu, die heute meine Frau ist. Und diese fand das Leben in unserer kleinen Universitätsstadt, die von den Einheimischen sonderbarerweise Metropole genannt wurde, sowieso nur schwer erträglich. So reifte in uns allmählich der Entschluss, den ganzen alten Kram hinter uns zu lassen und einen Neuanfang in Berlin zu wagen. Doch davon später mehr.
Dein Johannes