Deutsche Juristenbiographien, Teil 6: Hans Kelsen (1871-1973)
Matthias Wiemers
Hans Kelsen war ein Jahrhundertjurist. An seiner Lebensleistung spiegeln sich die großen Linien der Rechtsentwicklung im 20. Jahrhundert wider. Geboren in der KuK-Monarchie, gestorben in Berkeley, einer Keimzelle der Studentenunruhen von 1968.
Kelsens Werk füllt Regale und beschäftigt spezialisierte Institute. Schon deshalb muß es hier zunächst um die Lebensstationen des Juristen Kelsen gehen.
Hans Kelsen wird am 11. Oktober 1881 im damals österreichischen Prag als erster Sohn kleinbürgerlicher Eltern geboren. Drei Jahre später siedelt die jüdische Familie nach Wien über, wo Kelsen im Jahre 1906 das Studium der Rechtswissenschaft mit der Promotion abschließt. Bereits im Jahr zuvor hat sich Kelsen (evangelisch) taufen lassen und sein erstes Buch veröffentlicht, 1911 erfolgt die Habilitation über „Hauptprobleme der Staatsrechtslehre“.
Im Ersten Weltkrieg dient Kelsen als Oberleutnant der Reserve, muß allerdings aufgrund einer Lungenentzündung Dienst in Militärveraltung und Militärustiz leisten, 1917 als persönlicher Referent des Kriegsministers. Schon 1918 wird Kelsen an seiner Wiener Universität außerordentlicher, ein Jahr später ordentlicher Professor. Zu seinen bis in die Gegenwart wirkenden Leistungen gehört die maßgebliche Mitarbeit an der Schaffung des Bundes-Verfassungsgesetzes der Republik Österreich von 1920, woraufhin er ein weiteres Jahr später zum Richter auf Lebenszeit des Verfassungsgerichtshofes bestellt wird (bis zur Verfassungsänderung von 1930). Ein wesentlich neues Element der neu eingerichteten Verfassungsgerichtsbarkeit ist deren Kompetenz, Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin zu überprüfen.
Politische Spannungen infolge der Dominanz der Christlichsozialen Partei in Wien führen zu einem Wechsel an die Universität Köln im August 1930. Nach einem Dekanat im Wintersemester 1932/33 wird Kelsen am 13. April 1933 aufgrund seiner jüdischen Abstammung in Köln beurlaubt. Es folgt eine Emigration, die mehrere Schritte kennt: Zuerst nach Genf, an das dortige „Institut Universitäre des Hautes Etudes Internationales“, dann 1936 bis 38 zusätzlich als Völkerrechts-Professor an die deutsche Universität in Prag. 1940 schließlich erreicht Kelsen zunächst New York und wird für zwei Jahre lecturer an der Harvard Universität, ab 1942 ist er „visiting professor“, ab 1945 schließlich „full professor“ am political science department der University of California (Berkeley) und wird amerikanischer Staatsbürger. 1952 erfolgt die Emeritierung, die jedoch nicht das Ende der wissenschaftlichen Tätigkeit bedeutet, die Kelsen bis zu seinem Tod am 19. April 1973 fortsetzt. Dabei liegt der Arbeitsschwerpunkt seit der Emigration eher im internationalen Recht, jedoch sind auch Rechtsphilosophie und Soziologie als Arbeitsgebiete zu nennen.
Was macht nun die Besonderheit des juristischen Werks dieses Menschen aus? Kelsen war bekanntlich Begründer der so genannten „Reinen Rechtslehre“. Zwei Auflagen eines Buchs gleichen Namens hat er 1934 und 1960 veröffentlicht, aber bereits im Frühwerk finden sich hiervon Spuren. Die Reine Rechtslehre als Ausprägung des Rechtspositivismus versucht, das Recht von politischen, naturrechtlichen und historischen Einflüssen, wie sie besonders in der geisteswissenschaftlichen Methode (Rudolf Smend, Erich Kaufmann) zum Ausdruck kommen, zu befreien und die Rechtswissenschaft in Parallele zur modernen Naturwissenschaft wertfrei zu bestimmen. In der Interpretation der Reinen Rechtslehre bildet die Rechtsordnung ein System, das auf einer so genannten Grundnorm beruht, die als Grundlage der Rechtsordnung anzunehmen eine Gewissensfrage jedes Einzelnen ist. Die Unterscheidung von Sein und Sollen ist ebenfalls prägend für die Reine Rechtslehre, weil aus dem Sein für Kelsen niemals eine Konsequenz für die von ihm konstruierte Rechtsordnung folgt.
Neben seinem Hauptwerk „Reine Rechtslehre“ sind insbesondere die „Allgemeine Staatslehre“ (1925) und seine kleine Schrift „Vom Wesen und Wert der Demokratie“ (1920, 2. Aufl. 1929) hervorzuheben.
Quellen:
Horst Dreier, Hans Kelsen (1881 – 1973): „Jurist des Jahrhunderts“?, in: Heinrichs/Franzki/Schmalz/Stolleis, Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, S.705 ff.
Rudolf Thienel, Kelsen, Hans, in: Stolleis, Juristen. Ein biographisches Lexikon, S. 344 ff.