Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen
Liebes Tagebuch,
wenn ich so meine Juristenausbildung rekapituliere, dann kann ich beinahe sagen, dass die ersten Semester eine Zeit unbeschwerter Lebensfreude gewesen sind. Und es war ja auch toll, ein Zimmer im Studentenwohnheim zu haben und endlich sein eigener Herr zu sein. Während des Zivildienstes hatte ich noch bei meinen Eltern gewohnt. Nun waren sie mehrere hundert Kilometer weit weg, und ich konnte endlich machen, was ich wollte. Naja, nicht ganz, aber dazu später. Also Lebensfreude pur in den unteren Semestern, doch es lag von Anfang an ein Schatten über diesem Lebensabschnitt, der zuerst nur ganz klein war und später von Semester zu Semester bedrohlich länger wurde, bis er im Jahr vor dem Examen mein ganzes Dasein verdunkeln sollte. Dieser Schatten bestand, genau genommen, aus zwei Hälften. Die eine war die Angst vor dem Examen, die andere die bange Frage, was wohl danach kommen sollte. Als Student ist man ja eigentlich ein Großmeister im Verdrängen unangenehmer Gedanken. Es gibt immer so viel Ablenkung. Aber wir hatten in der juristischen Fakultät zwei bis drei Professoren, die immer wieder genussvoll ihre Finger in unsere Wunden legten. Bei jeder Gelegenheit schüttelten sie angesichts unserer großen Zahl den Kopf und sagten zu uns Sätze wie: „Überlegen Sie sich alle gut, ob Sie hier wirklich am richtigen Ort sind! Wenn Sie in den Klausuren immer nur gerade so über dem Strich landen, dann denken Sie doch mal darüber nach, ob Sie nicht das Fach wechseln sollten.“ Dabei war man gerade noch so stolz gewesen, wenn man eine Klausur bestanden hatte, während ein Drittel oder die Hälfte durchgefallen war. Aber irgendwie war es ja schon plausibel, was sie sagten. „Was soll denn angesichts dieser Juristenschwemme später einmal aus Ihnen werden?? Es gibt doch so viele andere schöne Berufe! Warum denn ausgerechnet Jura? Machen Sie sich doch nicht unglücklich! Versauen Sie sich doch nicht Ihr Leben!“ Zumindest haben mir diese ständigen Mahner nicht ganz unerheblich das Studium versaut. Vor allem wohl auch deshalb, weil ich ihnen bei nüchterner Überlegung Recht geben musste. Aber was wäre die Alternative gewesen? Abbrechen und was anderes machen? Das konnte ich insbesondere meinen Eltern nicht zumuten, die immerhin alles bezahlten.
Für mich bestand die Lösung am Ende darin, selektiv vorzugehen und nur auf jene Ratschläge dieser ständig mahnenden Professoren zu hören, die mir in den Kram passten. „Lesen Sie täglich den Wirtschaftsteil einer guten überregionalen Zeitung wie FAZ oder Süddeutsche. Das bringt Ihnen wahrscheinlich mehr als Ihre ganze Juristenausbildung!“ Dieser Rat war wirklich Gold wert. „Lesen Sie die Buddenbrooks!“ Die hatte ich aber schon zwischen Schule und Zivildienst gelesen. Im Studium legte ich also noch eine Schippe drauf und las den „Zauberberg“. Und schließlich: „Machen Sie nie das, was alle machen!“ Das war der beste Rat von allen.
Dein Johannes