Das deutsche Prostitutionsgesetz von 2002 sollte Frauen vor Ausbeutung schützen – bewirkt hat es das Gegenteil. Ein Ortsbesuch auf der Kurfürstenstraße, dem berüchtigten Straßenstrich in Berlin
Benedikt Vallendar
Berlin – Es ist kalt geworden, und der Herbst hat Berlin fest im Griff. Bunte Blätter fliegen über den Bürgersteig, derweil die Gäste im Café Neustart „Mensch ärgere dich nicht“, „Scotland Yard“ und das „Spiel des Lebens“ spielen. Kerzen und Kaffeebecher erinnern eher an ein gemütliches Zuhause und weniger an eine Beratungsstelle für Prostituierte. Allein der Infoständer mit den farbigen Flyern lässt vermuten, dass es hier auch um Beratung geht. „Das 2007 als Verein gegründete Café in der Berliner Kurfürstenstraße 40 versteht sich als ökumenische Initiative für Prostituierte, in der Christen aller Konfessionen Hand in Hand arbeiten“, so steht es auf der Homepage neustart-ev.de. Behörden bescheinigen den Mitarbeitern immer wieder gute Arbeit, trotz der Probleme, die so ein Straßenstrich mit sich bringt. Für Ärger sorge manchmal das rote Ampelmännchen hinter der einbruchsicheren Glastür, sagen Insider. Denn Männer haben zum Café Neustart grundsätzlich keinen Zutritt. Gleichwohl das Hausverbot nicht absolut zu gelten scheint. Denn: „Wer mit nachvollziehbaren Anliegen zu uns kommt, ist immer herzlich willkommen“, sagt bezeichnenderweise Gerhard Schönborn, Streetworker, Sozialmanager und zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit. Man wolle nur verhindern, dass das Café zum Anlaufpunkt für Freier und Zuhälter werde. Schönborn ist gelernter Zollbeamter und hat in Bonn Politikwissenschaft und Völkerkunde studiert.
Wochenlohn eines Bäckers
Vor der Tür herrscht reges Treiben. Schon zur Kaiserzeit gingen Frauen auf der Kurfürstenstraße anschaffen. Und spätestens seit Einführung des Internets weiß jeder, dass es dort den billigsten Sex in der ganzen Hauptstadt gibt, was auch der wachsenden Konkurrenz geschuldet sein dürfte. Denn für Nachschub ist immer gesorgt. Neuerdings kommt der auch aus Afrika, Nigerianerinnen, die in Italien Ärger mit der Polizei haben. „Viele Frauen kommen per Fernbus nach Berlin oder per Shuttle aus Sofia oder Budapest direkt an den Straßenstrich“, sagt Schönborn über das, was er tagtäglich erlebt. Die offenen Grenzen in Europa machen es möglich. „Die 40 oder 50 Euro, die wir hier an guten Tagen verdienen, entspricht bei uns dem Wochenlohn eines Bäckers“, sagt eines der Mädchen, eine Bulgarin. Viele schicken ihr Verdientes über Western Union nach Hause, obgleich das Meiste fürs Wohnen drauf geht, meist in Pensionen oder zur Untermiete, bei wem auch immer. Derweil der eh schon karge Hurenlohn bei skrupellosen Zuhältern landet, die den Mädchen allenfalls ein Taschengeld lassen.
Für zwanzig Euro
„Nur wenige Frauen sprechen Deutsch“, beschreibt Gerhard Schönborn das, womit er und seine Mitarbeiter tagtäglich zu tun haben. Praktikumsbewerbungen von Studenten, die eine oder mehrere osteuropäische Sprache sprechen, seien daher „höchst willkommen“. Denn Arbeit gibt es genug. In mehreren Schichten sorgen die Neustart-Mitarbeiter für einen reibungslosen Betriebsablauf. Sie belegen Brote, kochen Tee und haben ein offenes Ohr für die Ängste und Nöte der jungen Frauen.
Die Liberalisierung der Prostitution hatte nach 2002 zu einem beispiellosen Exodus junger Osteuropäerinnen aus meist bildungsfernen Schichten geführt. Mit der Folge, dass Prostitution als Lifestyle in die Mitte der deutschen Gesellschaft gelangte, wohingegen sie in Frankreich oder Schweden seit kurzem verboten ist, ohne dass damit Probleme gelöst wären. Denn: „Noch immer werden Mädchen mit leeren Versprechungen in den reichen Norden gelockt, wo sie sich kurze Zeit später mit kurzem Rock und weißen Stiefeln am Straßenrand wiederfinden“, sagt eine Kollegin Schönborns, die von Amts wegen mit Prostituierten zu tun hat und ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. Übrigens auch in Frankreich und Schweden, wo wegen des Risikos, erwischt zu werden, eben nur die Preise höher seien, Bestechungsgelder an die Polizei inklusive. Allein schon die Aussicht auf ein gekacheltes Bad mit Heizung, Waschmaschine und Trockner sei für viele der Mädchen, die meist aus bettelarmen Verhältnissen stammen, Anreiz genug, um im reichen Norden auf unkonventionelle Weise Geld zu verdienen. „Deutschland war pragmatischer als andere Länder, indem es seine Prostituierten zu Steuerzahlern erklärte“, stellt die Beamtin nüchtern fest. Das nur aus drei Paragraphen bestehende Prostitutionsgesetz von 2002 sei reine Augenwischerei. Nur vordergründig ginge es dabei um den Schutz von Frauen, wie vor allem Grünenpolitiker immer wieder vollmundig erklärt hatten. „Der Staat wollte nicht länger auf die Besteuerung seiner Prostituierten verzichten und baute sich dafür ein passendes Gesetz“, ist die Beamtin überzeugt. Denn jeder wisse, dass die Jahresumsätze im Rotlichtgewerbe vergleichbar mit denen im Waffen- und Drogenhandel seien. Nach jüngsten ARD-Recherchen liegt der Jahresumsatz allein aus Zwangsprostitution in Berlin bei knapp 70 Millionen Euro. Doch wie konkret der Fiskus bei den Damen auf der Kurfürstenstraße sein Geld eintreibt, weiß selbst Gerhard Schönborn nur vom Hörensagen. Theoretisch müsste jede Frau gemeldet sein und eine Steuererklärung abgeben. Doch nicht einmal erfahrene Finanzbeamte wissen, wie die bei einer Prostituierten aussehen soll, was der Fiskus etwa unter „Sonderausgaben“ und „Arbeitsmitteln“ anerkennt und was nicht. Eine diesbezügliche Anfrage im Finanzamt Berlin-Neukölln führt ins Leere. Behördeninterne Dienstanweisungen? Fehlanzeige. Das Problem: Für eine ordnungsgemäße Steuererklärung braucht der Bürger Belege, Gehaltsbescheinigungen und Quittungen, worüber die Mädchen, die vor dem Café Neustart auf und ab laufen, nur herzhaft lachen können. Indes wohl kaum eine ihren Job freiwillig, gar gerne machen dürfte. Im Gegenteil. Nicht umsonst wird die Kurfürstenstraße auch abfällig als „Hartgeldstrich“ bezeichnet, da viele Prostituierte den Sex auch schon mal für zwanzig Euro anbieten, nicht selten auf angrenzenden Kinderspielplätzen und vor Kellereingängen. Gearbeitet würde meist ohne Kondom, und es sei auch schon vorgekommen, dass Freier nur mit einer Schachtel Zigaretten zahlen wollten, empört sich Schönborn. Freilich ohne zu wissen, welcher Geldbetrag für zehnminütiges Kopulieren zwischen Müllcontainern und parkenden Autos angemessen wäre, obgleich der Markt ja angeblich alle Preise reguliert. Bemühungen, die Frauen in reguläre Arbeit, etwa als Reinigungskräfte zu vermitteln, gehen oft schief. Denn der Straßenstrich hinterlässt Spuren, am Körper, im Lebenslauf und vor allem in der Seele. „Bei weitem nicht alle Mädchen schaffen den Ausstieg“, sagt Schönborn, auch wenn sich allein in Berlin Dutzende Streetworker um die Betroffenen kümmern.
Weitgehend machtlos zeigt sich auch die Justiz. „Verurteilungen wegen Erpressung oder Nötigung sind im Rotlichtgewerbe eher selten, weil die Opfer ihre Aussagen in der Hauptverhandlung oft wieder zurückziehen“, sagt Michael Heuchemer, promovierter Strafverteidiger aus Bad Benndorf in Rheinland-Pfalz. Meist aus Angst vor Rache an Kindern und nahen Verwandten. Das Problem: In der Regel sind osteuropäische Zuhälter gut organisiert, genüge oft schon eine Kurznacht in die Heimat, wenn eines der Mädchen nicht spurt, gar fliehen will.
Wie Erstklässler
Fast familiär ist die Atmosphäre im Café Neustart, dem Gegenpol zur harten Wirklichkeit rund um den nahen U-Bahnhof und die angrenzende Potsdamer Straße. Eine Studentin, angehende Sonderschullehrerin, kommt aus der Küche; in der Hand hält sie ein Tablett voll dampfender Tassen und Gebäckschalen. „Alles kostenlos“, sagt sie lächelnd. Vieles stamme aus Spenden. „Kaufen müssen wir vor allem die leicht verderblichen Sachen wie Wurst, Käse und Butter“, sagt Gerhard Schönborn. „Brot bekommen wir jeden Montag von einem Bäcker gespendet.“ Und dass es das Café ohne die ehrenamtlichen Helfer wahrscheinlich gar nicht geben würde. Von Rewe und Aldi kommen schon mal Restposten Tee und Kaffee. Wichtig sei auch Schokolade, auf die die teils noch recht verspielten Mädchen ganz verrückt seien, sagt Schönborn. Vor allem auf die mit der lila Kuh. „Wenn wir heiße Getränke ausschenken rufen sie oft schon von weitem ‘Schoki‘, ‘Schoki‘ und kommen angerannt wie Erstklässler“. Nicht nur in solchen Momenten denkt Schönborn, verheiratet, an seine eigene Familie. Derweil das Geschäft mit dem bezahlten Sex seinen gewohnten Gang geht. Und die grell geschminkten Mädchen mit aufreizenden Posen den Eindruck vermitteln, als würden sie gerade ihren Traumjob verrichten.
Inzwischen ist es dunkel geworden. Im Schneckentempo fahren kleine und große Autos die lang gezogene Kurfürstenstraße auf und ab, werden die Frauen wie Auktionsware begutachtet, bevor das Seitenfenster heruntergeht und die Fahrer einen Preis aushandeln oder aufs Gas treten. Je nachdem, ob ihnen das Mädchen gefällt oder nicht. Sie wissen: Es sind Frauen, deren Jugend einer verkürzten Halbwertzeit unterliegt und mit denen sich handeln lässt, wie auf einem orientalischen Basar.
Informationen: www.neustart-ev.de