Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen
Liebes Tagebuch,
was für ein Unsinn, diese juristischen Noten! Das sagen alle, die mit ihren Jura-Examensnoten nicht zufrieden sind, also die meisten. Wer dagegen in seinen Abschlussprüfungen gut abgeschnitten hat, der ist meistens der Ansicht, dass juristische Noten einen großen Aussagewert hätten. Ich gehöre zur ersten Gruppe und habe folgerichtig auch keine gute Meinung von der juristischen Notengebung.
Es fängt ja schon an mit diesem breitgefächerten Punktespektrum von 1 bis 18. In keinem anderen Fach sonst gibt es so etwas. Es soll suggerieren, dass hier die Beurteilung der erbrachten Leistungen mit ganz besonderer Genauigkeit erfolgt. Eine pauschale Benotung mit 1,2 oder 3, wie sie in anderen akademischen Disziplinen üblich ist, verbietet sich in der Juristenausbildung natürlich. Jede noch so kleine Nuance, durch die sich die Arbeiten oder Antworten der Kandidaten unterscheiden, soll sich in der Notengebung widerspiegeln können. Zweifellos wird hier ein hoher theoretischer Anspruch erhoben. Wird seine praktische Umsetzung aber diesem Anspruch gerecht? Nach meinen Erfahrungen würde ich sagen: ganz im Gegenteil.
Man kann sich zunächst einmal die ketzerische Frage stellen, was man denn in einem Fach, in dem vor allem das weitgehend mechanische Lösen von Fällen nach einem bestimmten Grundmuster verlangt wird, so großartig anders machen kann als alle anderen, dass dies eine solche Ausfächerung des Notenspektrums rechtfertigen könnte. Zugegeben, es lässt sich schon einiges unterschiedlich gestalten im Ausdruck, in der Wortwahl, im Satzbau. Nur ist gerade dies allzu oft bloße Geschmackssache des jeweiligen Korrektors. Daher wird wohl jeder, der die deutsche Juristenausbildung durchlaufen hat (und insbesondere, wer dabei auch viele korrigierte Probeklausuren geschrieben hat), bestätigen, dass er oder sie in all den vielen Klausuren und Hausarbeiten regelmäßig höchst unterschiedliche Ergebnisse eingefahren hat, während sie oder er subjektiv eigentlich angenommen hatte, zumeist in etwa Ähnliches geleistet zu haben. Ich erinnere mich an einen fachlich überaus exzellenten Kommilitonen, den ich neugierig nach seinen Ergebnissen in den Probeklausuren befragte, der mir von einer Klausur berichtete, unter der er die Bewertung „Mit Bedenken 1 Punkt“ fand. (Womit das nicht ganz unwesentliche Problemfeld, dass eigenständige Lösungen oftmals von den Korrektoren schlichtweg nicht verstanden werden, hier zumindest kurz angerissen wäre.)
Noch viel frappierender zum Vorschein kommt das besonders hohe Gewicht des Glücks- und Zufallsfaktors in der juristischen Notengebung, wenn man betrachtet, wie inhaltlich weitgehend identische Arbeiten der Mitglieder gemeinsamer Lerngruppen von verschiedenen Korrektoren (die Zuordnung erfolgt meist nach Anfangsbuchstaben des Familiennamens) bewertet werden: nämlich höchst unterschiedlich. Mir ist sogar ein Fall bekannt, in dem zwei wortwörtlich völlig identische Hausarbeiten zweier Studenten eingereicht wurden (was bei den vielen hundert Studierenden pro Semester natürlich niemandem aufgefallen ist). Die Ergebnisse lagen mit 2 und 5 Punkten sogar noch relativ dicht beieinander – nur war die Folge, dass der eine souverän bestanden und der andere vier Wochen angestrengter Arbeit umsonst verrichtet hatte. Überhaupt erfährt durch diese Unkultur des gehäuften Durchfallenlassens regelmäßig ein erheblicher Anteil der Studierenden keinerlei Wertschätzung seiner Arbeit. So machen die Betreffenden die niederschmetternde Erfahrung, einem weitgehend auf Willkür und Unvorhersehbarkeit basierenden System ausgeliefert zu sein, in dem sie sich aber irgendwie behaupten müssen, denn nur durch dieses Nadelöhr führt der Weg zum erfolgreichen Studienabschluss. Überflüssig zu erwähnen, dass es sich bei den Korrektoren, die die Arbeiten bewerten, häufig um wenig motivierte und schlecht bezahlte Mitarbeiter der Lehrstühle handelt, die oftmals nur die vorliegende Arbeit mit der ihnen vom Professor gereichten Lösungsskizze abgleichen und fachlich zumeist kaum kompetenter sind als die Studenten, über deren Zukunft sie (mit)entscheiden.
Dennoch haben juristische Noten, vor allem die Examensnoten, einen gewissen Aussagewert. Und das hat auch damit zu tun, dass Kommilitonen, von deren intellektuellen Fähigkeiten ich keine besonders hohe Meinung hatte, vielfach die besten Noten erzielten. Wir befinden (oder befanden) uns nämlich in einem starren, innovations- und kreativitätsfeindlichen System, das sich durch die Jahre und Jahrzehnte (im Hinblick auf seine preußischen Wurzeln darf man getrost sagen: durch die Jahrhunderte) immer wieder stupide selbst reproduziert hat. Es honoriert vor allem die Fähigkeit zur perfekten Anpassung an seine Spielregeln.
Dein Johannes