Wenn die Sonne der Kultur niedrig steht

Wie der Jurastudent Karl Kraus zum radikalen Kulturkritiker wurde

Jochen Barte

Der österreichische Satiriker und Essayist Karl Kraus (1874-1936) ist heute fast nur noch Eingeweihten bekannt. Allenfalls hat er im kollektiven Gedächtnis als Textsteinbruch für allerlei spöttische Zitate oder spitze Aphorismen überlebt. Formulierungen der Sorte: „Es reicht nicht aus, keine Gedanken zu haben, man muss auch unfähig sein, diese zu artikulieren“, oder „Wenn die Sonne der Kultur niedrig steht, werfen sogar Zwerge Schatten“, finden sich dann und wann in den Feuilletons der großen Tageszeitungen, scheinen sie doch auf unsere heutige Zeit bruchlos übertragbar. Dennoch tut die Rezeption Kraus unrecht, so sie ihn auf einen eloquenten Stichwortgeber reduziert, dessen geistreiche Sentenzen gerade noch dazu ausreichen, den Status der eigenen Bildungsbeflissenheit zu untermauern. Kraus war weit mehr als ein begabter „Pointenreißer“ dessen Zitate ein nettes Dressing für journalistische Texte abgeben oder mit denen Otto Normalverbraucher auf der nächsten örtlichen Kulturvereinssitzung einen schlanken Fuß machen kann. Von 1899 bis zu seinem Tod im Jahr 1936 hat Kraus fast im Alleingang 922 Bände seiner Zeitschrift Die Fackel herausgegeben, ein Riesenwerk radikaler Rechts- und Kulturkritik, das bis heute Seinesgleichen sucht. Was andere selbst in der Retrospektive oft nicht glaubten erkennen zu können, war für ihn evident: Die Absurdität und den menschenverachtenden Charakter des Ersten Weltkriegs hat Kraus früh gesehen, die Entwicklung zum Zweiten hin angedeutet, wobei er die Nationalsozialisten im satirischen Sinne nicht mehr für satisfaktionsfähig hielt („Beleuchtete Barbaren, die alles beherrschen außer der Sprache“.), weshalb der Kulturkritiker aus Scham und Ekel verstummte. Wie kam es dazu? Kraus erblickt 1874 als Sohn eines wohlhabenden jüdischen Kaufmanns im böhmischen Gitschin das Licht der Welt. Als er drei Jahre alt ist, siedelt die Familie nach Wien über – was für Kraus lebensbestimmend sein sollte. Die Bindung an Wien wird er nicht mehr verlieren. Nach dem Abitur immatrikuliert sich Kraus im Jahr 1892 an der rechtswissenschaftlichen Fakultät. Sein eigentliches Interesse gilt aber dem pulsierenden Literatur- und Theaterleben der Metropole, sein Studium verfolgt er nur lustlos und halbherzig. Stattdessen widmet er sich intensiv künstlerischen und journalistischen Tätigkeiten. Zunächst ist sein Ziel die Schauspielerei. Als er aber mit seinem Debut als Theaterschauspieler kläglich scheitert, beschließt er, angeregt durch den zu dieser Zeit sehr angesehenen deutschen Publizisten Maximilian Harden, der in Berlin seine eigene Zeitschrift Die Zukunft herausgibt, ebenfalls eine eigene Zeitschrift zu gründen. Denn mittlerweile hat Kraus die Doppelbödigkeit und Scheinmoral der Wiener Gesellschaft kennen gelernt und den Entschluss gefasst, die bestehenden Machtverhältnisse mit ätzender Polemik und Satire zu geißeln. Das Motto der ersten Ausgabe der Fackel lautet dementsprechend „Was wir umbringen“. Der Kreis der anvisierten Gegner wird bereits hier für die kommenden Jahre definiert: Es sind Presse, Verwaltung und Justiz. Ihnen wirft er besonders Verlogenheit, Rückständigkeit und Korruption vor.

Kampf ums Recht

Vor allem bei seinen Angriffen auf das Rechtssystem bringt Kraus großkalibrige Geschütze in Stellung: Er wendet sich gegen die herrschende Klassenjustiz und fordert ein liberales Sexualstrafrecht, das entgegen der oft brutalen Männermoral der Frau das Selbstbestimmungsrecht über ihren Körper geben soll und plädiert in diesem Zusammenhang für die Legalisierung der Prostitution. Für die damalige Zeit revolutionäre Forderungen, die Kraus teilweise im Diskurs mit so berühmten zeitgenössischen Strafrechtlern wie Heinrich Lammasch und Franz von Liszt entwickelt hat. Zum präferierten Hassobjekt, sozusagen als „Primus inter Pares“, gerät ihm dabei der Hofrat Johann Feigl, Vizepräsident des Wiener Landesgerichts. Ihn greift Kraus in der Fackel wegen seiner Judikatur immer wieder an. Als Feigl im März 1904 den dreiundzwanzigjährigen Anton Kraft wegen versuchten Handtaschenraubes zu lebenslangem schweren Kerker verurteilt, protestiert der Satiriker scharf gegen die vermeintliche Schuldangemessenheit des Urteils. Zugleich wird die literarische Technik deutlich, mit der Kraus seine Kritik artikuliert. Kraus sieht den wahren Grund für das harte Urteil in der Unbotmäßigkeit, die der Angeklagte, der sich gegen die spitzen Redensarten des Gerichtshofes verwahrt habe, Feigl entgegen brachte, motiviert: „Das ward in diesem Hause und von Herrn Feigl noch nicht erlebt.“ In seiner Glosse Ein Unhold reduziert Kraus die empirische Person Johann Feigl deshalb literarisch, indem er ihn zur Metapher des Bösen stempelt, das unschädlich gemacht werden müsse: „Wenn man bedenkt, ein wie wertvolles Gefühl der Rechtssicherheit Millionen durch die Kaltstellung eines einzigen Hofrichters wiedergegeben werden kann, dann muß man eigentlich staunen, dass eine auf populäre Wirkungen bedachte Regierung nicht öfter die Gelegenheit nützt.“ Kraus`satirisches Urteil lautet daher: Schuldig wegen schwerer Vergehen gegen die Menschenwürde. Und er gibt zu bedenken, dass Feigl diesbezüglich auch vor einer höheren Instanz, vor Gott, keine Absolution erlangen könne, denn Feigl müsse bekennen: „Ich habe mein ganzes Leben hindurch das österreichische Strafgesetz angewendet!“

Die letzten Tage des Satirikers

Kraus setzt seinen Kampf für eine bessere, lebenswerte Gesellschaft bis zu seinem Tod fort. Gehört wird er selten, Recht behalten hat er bei den großen Themen seiner Zeit trotzdem, wenngleich er den Triumph der ultimativen Barbarei nicht mehr miterleben muss. Nach einer Kollision mit einem Radfahrer stirbt Kraus nach 10 tägigem Delirium 1936 in Wien.

Quellen:

Karl Kraus: Sittlichkeit und Kriminalität. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987.

Edward Timms: Karl Kraus. Satiriker der Apokalypse. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999.

Paul Schick: Karl Kraus. Hamburg: Rowohlt 1993.

Reinhard Merkel: Strafrecht und Satire im Werk von Karl Kraus. Nomos: Baden-Baden 1994.

Karl Kraus

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Veröffentlicht von on Apr. 23rd, 2009 und gespeichert unter DRUM HERUM, RECHT HISTORISCH. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Sie können eine Antwort durch das Ausfüllen des Kommentarformulars hinterlassen oder von Ihrer Seite einen Trackback senden

1 Antwort for “Wenn die Sonne der Kultur niedrig steht”

  1. Leopold Löwe sagt:

    Auch heutzutage gibt’s leider hin und wieder Richter wie Feigl. „Richter Gnadenlos“ hat sich zum Glück an der Copacabana selbst kaltgestellt. Für solche Richter dürfte auch ein anderes Kraus-Wort gelten:
    „Die bloße Mahnung an die Richter, nach bestem Wissen und Gewissen zu urteilen, genügt nicht. Es müssten auch Vorschriften erlassen werden, wie klein das Wissen und wie groß das Gewissen sein darf.“

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