Low Potential

Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen

Liebes Tagebuch,

vor fünf Wochen habe ich die wahrscheinlich letzte Chance meines Lebens verpasst, doch noch ein sogenannter High Potential zu werden. Und das mit voller Absicht. Ich war schon sehr erstaunt, als ich während meiner Abwesenheit einen Anruf auf meinem Festnetztelefon erhielt, den ich zunächst nicht zuordnen konnte: Auf dem Display wurde eine Nummer aus der Schweiz angezeigt. Natürlich rief ich nicht gleich zurück, denn wer konnte schon wissen, was dahinter steckte, und schließlich gilt meine Telefon-Flatrate nur fürs Inland. Warum also noch Telefongebühren verschwenden? Bald darauf erhielt ich jedoch eine E-Mail aus Zürich von einem „Executive-Search-Unternehmen“, laut Google sogar „einem der führenden Executive-Search-Unternehmen der Schweiz“. Ich hatte keinen blassen Schimmer, was das sein könnte, und fand die Antwort auf Wikipedia: „Dienstleistung im Rahmen der Besetzung von vakanten Führungspositionen in Unternehmen. … Executive Search wird bei der Suche nach Top-Führungskräften, die i. d. R. nicht auf eine Stellenanzeige reagieren würden, sowie bei der Suche nach ungewöhnlichen Spezialisten angewandt.“ Und die waren also auf mich gekommen? War das ein Fake? Andererseits dachte ich mir, dass ich so wichtig nun auch wieder nicht bin, dass es sich für irgendjemanden lohnen könnte, mich zu verarschen. Etwas irritiert überdachte ich mein Karriere-Profil, und kam zum Ergebnis, dass es sich, zumindest von außen betrachtet, wohl gar nicht so lausig darstellte. Vor allem die Promotion macht offenbar immer noch etwas her. Das Anschreiben in der E-Mail lautete: „Gerne hätte ich in einer vertraulichen Angelegenheit ein paar Worte mit Ihnen gewechselt. Leider konnte ich Sie telefonisch nicht erreichen. Darf ich Sie höflich um Rückruf bitten?“ Kein Zweifel, das musste echt sein. Dennoch rief ich nicht zurück. Mir war das Ganze nicht geheuer. Nach einer Woche klingelte dann aber erneut das Telefon, und ich ging ran. Eine Dame mit starkem Schweizer Akzent fragte mich, ob ich wohl einen Moment Zeit hätte. Und dann kam es: „Ein Verlag in der Schweiz möchte eine Führungsposition neu besetzen. Könnten Sie sich das vorstellen?“ Die wollten mich also tatsächlich aus meinem vertrauten und gemütlichen Leben in Berlin herauslocken. Aber ich, ich wollte nicht. Grob geschätzt hätte ich dort das Zehnfache meines jetzigen Erwerbseinkommens verdienen können. Dennoch fand ich diese Aussicht alles andere als attraktiv. Man müsste ja in der Schweiz auch irgendwo wohnen und seinen Lebensunterhalt bestreiten. Bei den Preisen dort wäre also schnell die Hälfte der Einkünfte gleich wieder weg gewesen. Außerdem hätte dann der Spitzensteuersatz für mich gegriffen. Und das ständige Pendeln nach Berlin wäre mir auch schon bald an die Substanz gegangen. (Um vom ökologischen Desaster der Vielfliegerei gar nicht erst zu reden.) Nach einschlägigen Untersuchungen sind Pendler die unglücklichsten Menschen überhaupt. Ich dachte an meinen Freund A, der einen tollen Job in Düsseldorf hat, aber seine Familie in Berlin-Friedrichshain. Jedes Wochenende fährt er mit dem ICE stundenlang hin und her. Als ich ihn das letzte Mal sah, hatte er schwarze Ringe unter den Augen und tiefe Falten im Gesicht, ganz zu schweigen von seinem fortschreitenden Haarausfall. Aber wäre so eine Führungsposition nicht eine tolle Herausforderung? Vielleicht für andere, für mich aber ganz bestimmt nicht. Aus Erfahrung und Beobachtung weiß ich genau, dass Verlagsjobs eigentlich alle ziemlich öde sind. Und wenn ich ganz realistisch bin, dann hätte mich der Schweizer Verlag am Ende wohl auch gar nicht genommen, selbst wenn ich gewollt hätte. Ich hätte bei Interesse nämlich noch mehrere Interviewrunden absolvieren müssen. Und spätestens da wäre ich sicherlich aufgeflogen. Ich kann nämlich eigentlich fast gar nichts. Ich kann keine Excel-Tabellen programmieren und besitze nicht einmal ein Smartphone. Das einzige, was ich kann, ist gut schreiben und gut reden. Und ich kann gut Geld anlegen in Aktien und Immobilien. Ohne die Erbschaften, die wir im letzten Jahr gemacht haben, hätte ich vielleicht noch etwas länger über diesen Verlagsjob in der Schweiz nachgedacht. Auch wenn wir Kinder hätten, wäre die Situation wohl eine andere. Aber so, wie die Dinge stehen, überlasse ich diesen Job gerne einem anderen, einem echten High Potential.
All das ging mir innerhalb weniger Sekunden durch den Kopf. „Nein“, erklärte ich der Dame am Telefon, „das kommt für mich aus persönlichen Gründen nicht infrage. Ich bin fest verwurzelt in Berlin und bin hier sehr zufrieden.“ Die Executive-Search-Dame wirkte etwas konsterniert: „Na, dann alles Gute!“ Ich bedankte mich und legte auf.

Dein Johannes

Veröffentlicht von on Apr. 3rd, 2017 und gespeichert unter JOHANNES, LIEBES TAGEBUCH. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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