Scheiben Spezial: Vor 30 Jahren erschien „One Second“ von YELLO
Thomas Claer
30 Jahre sind eine lange Zeit. Und was ist geblieben von der Musik, an der man sich damals als verwirrter Teenager so innbrünstig erfreut hat? Nun ja, nicht viel. Aber diese Platte, die jahrelang in meinem Plattenschrank stand, bis sie irgendwann in den Neunzigern einer, wie ich es seinerzeit nannte, „ästhetischen Säuberung“ meiner Tonträgersammlung zum Opfer fiel und nach reiflicher Überlegung im Second-Hand-Plattenladen verkauft wurde, diese Platte habe ich nun, nachdem ich sie gut und gerne zwei Jahrzehnte später auf YouTube wiederentdeckt und erstmals seitdem wieder von vorne bis hinten durchgehört habe, erneut ins Herz geschlossen. Es ist, als ob mit dieser Musik meine ganze Welt der späten Achtzigerjahre wiederauferstünde, das Lehrlingswohnheim an der Ostsee, das bald nach der Wende abgerissen wurde, in dem ich sie immer wieder auf dem Kassettenrecorder hörte.
„One Second“ ist die vielleicht rundeste und stimmigste aller YELLO-Platten, aber sie ist, wie ich nun feststelle, keineswegs so glatt und poppig wie ich es wohl angenommen haben muss, als ich sie damals in einem mir heute unerklärlichen Anflug von Rigorismus verkauft hatte. Hier sind die Schweizer Soundtüftler Boris Blank und Dieter Meier in Bestform. Zwei Jahre nach der Trennung von Gründungsmitglied Carlos Peron ist der YELLO-Sound noch längst nicht so verflacht, wie man es ihm später immer wieder und dann ja auch durchaus zutreffenderweise bescheinigt hat. Die beiden Anzug- und Schnurrbartträger präsentieren auf diesem Album ein buntes Sammelsurium aus allerlei Ethno-Sounds verschiedenster Provenienz, wobei der Schwerpunkt zumeist auf einer lateinamerikanisch anmutenden Percussion liegt. Allerhand gewöhnliche und ungewöhnliche Instrumente werden mit spielender Leichtigkeit ins elektronische YELLO-Klanguniversum integriert. Ebenso bunt und vielfältig sind die eingesetzten Gesangsstimmen. Zahlreiche prominente Gastmusiker von Billy Mackenzie („Moon on Ice“) bis Shirley Bassey („The Rhythm Divine“) unterstützen Blank und Meier, noch dazu in verschiedenen Sprachen. Die „Hit-Singles“ dieses kommerziell gediegenen Albums waren das grandiose „Call it Love“ und „Goldrush“, zwei auch nach heutigen Maßstäben überragende Pop-Songs: Blanks fein dosiertes Pathos, ohne belanglos zu sein, im einen Falle, Meiers mitreißendes stimmliches Stakkato im anderen. Für mich öffnete „One Second“ vor 30 Jahren ein Fenster aus der kleinen, engen DDR in die große weite Welt.
YELLO
One Second
Mercury 1987