Das Recht und ich

Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen

Liebes Tagebuch,

je älter ich werde, desto größere Hochachtung habe ich vor dem Recht. Vor unserem Rechtssystem ganz allgemein, vor den Institutionen und Organen der Rechtspflege. Man muss nur mal in andere Länder blicken, die keine unabhängige Justiz haben. Dort werden kritische Geister mitunter einfach eingesperrt und ohne Verfahren monate- oder jahrelang festgehalten. Oder sie werden auf offener Straße regelrecht hingerichtet und diese Verbrechen niemals aufgeklärt. Ja, man muss schon immer sehr froh sein, in einem funktionierenden Rechtsstaat zu leben.

Heißt das nun, dass ich jedem nur wärmstens empfehlen würde, immer und überall energisch für sein Recht zu streiten? Nein, das heißt es nicht, ganz im Gegenteil. Inzwischen sehe ich es sogar so, dass eine der größten Errungenschaften des Rechtsstaats seine abschreckende Wirkung auf freche und unverschämte Mitmenschen ist. Man könnte ja, wenn man wollte, gerichtlich gegen sie vorgehen, und man kann notfalls damit drohen. Man wird es aber, wenn man noch halbwegs bei Verstand ist, nur in absoluten Ausnahmefällen auch tun. Denn es befriedigt vielleicht den eitlen Drang, Recht zu behalten (und zu bekommen) all derer, die sonst nichts Besseres zu tun haben, aber abgesehen davon ist es doch sehr ineffektiv. All die Mühe und Zeit, Geld und Nerven, die hierfür aufgewendet werden, lassen sich doch woanders deutlich produktiver einsetzen. Da prozessieren enttäuschte Kleinaktionäre jahrzehntelang gegen die Telekom, weil sie sich vor ihren Aktienkäufen zur Jahrtausendwende schlecht informiert fühlten. Und inzwischen haben sie wahrscheinlich allesamt die Versechsfachung des deutschen Aktienindexes seit 2002 verpasst. Nur zum Beispiel. Aber so ist es doch eigentlich überall: Die Streithammel und Prozesshansel sind zwar ein Segen für geschäftstüchtige Anwälte, aber ansonsten helfen sie mit ihrem Treiben niemandem, und schon gar nicht sich selbst. Wenn sie stattdessen doch nur etwas Vernünftiges mit sich anfingen…

Ich selbst habe festgestellt, dass es – insbesondere wirtschaftlich, aber auch gesundheitlich betrachtet – fast immer effektiver ist, ausufernden Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen und einvernehmliche Lösungen zu suchen. Ja selbst die ungünstigsten Kompromisse helfen meistens weiter als langwierige Streitereien. Wäre ich nach dem Tod meines Onkels vor anderthalb Jahren meinem Cousin (der als Prozesshansel bekannt ist) und meinen Cousinen nicht so weit entgegengekommen, dann müsste ich wohl heute noch auf meinen Erbteil warten. Die Wohnung, die wir damals von dem Geld gekauft haben, ist heute schon mindestens 30 Prozent mehr wert…

Habe ich also, da ich doch wohlweislich um jeden Rechtsstreit einen weiten Bogen mache, nicht das falsche Fach studiert? Nicht unbedingt. Wer die Rechtslage gut kennt, kann auf dieser Grundlage bessere Kompromisse schließen. Und man kann mit einem juristischen Abschluss andere einschüchtern. Immerhin das. Man muss es ja nicht mutwillig tun, nur wenn andere einem blöd kommen…

Dein Johannes

Veröffentlicht von on Dez. 11th, 2017 und gespeichert unter JOHANNES, LIEBES TAGEBUCH. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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