Wann man was ist

Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen

Liebes Tagebuch,

„Hast du was, dann bist du was“, so stand es in meinem Lehrbuch für Staatsbürgerkundekunde zu DDR-Zeiten, dieser Grundsatz aus kapitalistischen Ländern gelte im Sozialismus nicht. Hier herrsche vielmehr das Prinzip: „Leistest du was, dann bist du was“. Zumindest aus heutiger Sicht klingt aber auch die zweite Parole nicht besonders sozialistisch, sondern eher FDP-mäßig. Eigentlich sind beide Axiome ziemlich menschenfeindlich. Denn ihnen zu folgen, hieße ja, dem Menschen entweder nur dann einen Wert beizumessen, wenn er über viel oder zumindest kostbares Privateigentum verfügt, oder wenn er mit seinen Tätigkeiten etwas bewirkt, das sich zahlenmäßig in hohen Erträgen messen oder auf andere Weise quantifizieren lässt. Wer nichts hat, sondern sich vielleicht nur etwas zu haben wünscht, oder wer sich nur bemüht, etwas zu leisten, aber dabei scheitert, der ist nach diesen Definitionen also nichts; und das kann es doch nicht sein. Nein, es muss doch andere, menschenfreundlichere Prinzipien geben.

Im Bundestagswahlkampf 1987, an den ich mich noch sehr genau erinnern kann, weil ich ihn seinerzeit als Jugendlicher mit erwachendem politischen Bewusstsein verfolgte (und dies auch noch vom Osten aus, damals noch hinter dem „eisernen Vorhang“, weshalb die praktizierte westliche Demokratie mir damals nur um so begehrenswerter erschienen ist), im Bundestagswahlkampf 1987 also hatte sich die SPD unter ihrem Spitzenkandidaten Johannes Rau (Spitzname „Bruder Johannes“) eine Parole ausgedacht, die als Antwort auf einen früheren CDU-Slogan von Kanzler Helmut Kohl (Spitzname „Birne“ wegen seiner Kopfform) gedacht war. Der alte CDU-Slogan hatte gelautet: „Leistung muss sich wieder lohnen“. Und der neue SPD-Slogan hielt dagegen mit: „Arbeit muss sich wieder lohnen“. Das ist ja schon ein Unterschied. Der SPD-Slogan erkennt also auch an, wenn jemand sich nur bemüht und überhaupt etwas Zielgerichtetes tut, auch wenn es vielleicht wenig bewirkt oder – etwas überspitzt gesagt – womöglich sogar Schaden anrichtet. „Arbeitest du was, dann bist du was“, so könnte also – diesen Gedanken aufgreifend – das humanistisch-sozialdemokratische Pendant zu den eingangs erwähnten traditionell-elitären und neoliberal-realsozialistischen Leitsätzen lauten. Und dies stünde auch im Einklang mit der Kirchentradition des „Ora et labora“. Solange einer also betet und arbeitet, ist demzufolge alles in Ordnung. Doch ist auch dies nicht besonders nett, wenn man sich die Kehrseite dieses Mottos vor Augen hält, die in der ebenfalls aus dem Umfeld der Kirche stammenden Regel gipfelt: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.“ Wer nicht arbeitet, heißt das, vielleicht weil er arbeitslos, zu alt, zu jung, zu krank, zu gebrechlich oder einfach zu faul ist, der wäre dann also ebenso ein Nichts wie nach den obenstehenden Prinzipien der Habenichts oder der Minderleister. Nein, auch das kann es nicht sein!

Bleibt also wohl nur noch die allgemeine Menschenrechtsdoktrin. Demnach ist jede und jeder bereits dadurch etwas, dass sie oder er es geschafft hat, als Mensch auf die Welt gekommen zu sein. Und das ist in der Tat nicht völlig geringzuschätzen. Aber wenn so gesehen ohnehin alle etwas sind, dann muss man es doch eigentlich gar nicht besonders betonen.

Vielleicht wäre es besser, ganz anders an diese schwierige Frage heranzugehen, wann man „etwas ist“. Wer sagt eigentlich, dass man unbedingt „etwas sein muss“. Wie wäre es, wenn man einfach sagte: „Ich bin nichts, aber das macht auch nichts“? Oder sogar: „Ich bin nichts, und das ist auch gut so. Ich will nämlich gar nichts sein.“ Aber so einfach ist es nun auch wieder nicht, denn streng genommen kann man gar nicht nichts sein, auch wenn man es möchte. Irgendetwas ist man schließlich immer, ob man will oder nicht.

Doch kann man, gewissermaßen im Wege der juristischen Auslegung, dahin kommen, dass man als einen wichtigen Aspekt von „etwas sein“ die Wertschätzung und Anerkennung seiner Mitmenschen begreift. Oder den eigenen Rang in der Gesellschaft. Und wer sich erst einmal von der Vorstellung befreit hat, in den Augen seiner Mitmenschen oder der Gesellschaft unbedingt „etwas sein“ zu müssen, der hat die schwerste Hürde zur Erlangung innerer Freiheit schon genommen. Unabhängig davon kann nämlich jeder auch nach seinen eigenen individuellen Maßstäben etwas sein, auch wenn dies vielleicht sonst niemand bemerkt. Siehe Arthur Schopenhauer, „Aphorismen zur Lebensweisheit“: Das, was einer ist, ist streng zu trennen von dem, was einer vorstellt. Zunächst einmal ist man dann, was man selbst von sich denkt. „Cogito ergo sum“, wusste ein anderer Philosoph namens Descartes, „Ich denke, also bin ich.“ Und für Goethe liegt hier sogar das eigentliche „Eigentum“: „Ich weiß, dass mir nichts angehört,/ Als der Gedanke, der ungestört/ Aus meiner Seele will fließen…“ (Also bitte niemanden beim Denken stören! Das könnte ein enteignungsgleicher Eingriff sein.) Und zweitens zählt für Goethe zum eigentlichen Eigentum: „Und jeder günstige Augenblick,/ Den mich ein liebendes Geschick/ Von Grundaus lässt genießen.“ Die Fähigkeit zum Genuss ist es demnach, die noch hinzutritt. Ich würde also sagen: „Hast du solche Gedanken und bist du imstande, dein Leben zu genießen, dann bist du schon mal was! Und hast du sie nicht und kannst es nicht, dann bist du eben … etwas anderes.“

Dein Johannes

Veröffentlicht von on Feb 5th, 2018 und gespeichert unter JOHANNES, LIEBES TAGEBUCH. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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