Alles außer kommerziell

Scheiben Spezial: Vor 30 Jahren erschien „Nerves“ von den Kastrierten Philosophen

Thomas Claer

Eine wunderschöne Platte von Anfang bis Ende. Kein anderes Werk der Underground-Combo „Kastrierte Philosophen“ (1981-1996), die heute kaum noch jemand kennt, ist so fein arrangiert, so gewählt ausbalanciert, so in sich ruhend wie „Nerves“, das vor nunmehr drei Jahrzehnten als Gesamtkunstwerk in der deutschen Musiklandschaft für Furore sorgte. Damals galten die „Philosophen“ schon seit Jahren als vielversprechender Szene-Act, dem der große Durchbruch allerdings auf unerklärliche Weise immer verwehrt geblieben war. Dabei wurden die Kritikerlieblinge aus Verden an der Aller, später aus Hamburg, seinerzeit von der Musikpresse als „deutsche Velvet Underground“ hochgejubelt – und blieben dann doch ein ewiger Geheimtipp. Nach einem fulminanten Frühwerk war „Nerves“ (1988) zweifellos der kreative Höhepunkt im Schaffen der Band, die – neben immer anderen Gastmusikern – im Wesentlichen aus den Co-Leadsingern und Multiinstrumentalisten Katrin Achinger (geb. 1962) und Matthias Arfmann (geb. 1964) bestand, die auch privat ein Paar waren. Dies blieben sie auch noch bis 1996; ihre private Trennung fiel mit dem Ende des Bandprojektes zusammen.

Zurück zu „Nerves“: Wenn eingangs von einem Gesamtkunstwerk die Rede war, dann deshalb, weil einfach alles an diesem Album stimmt: Schon das aufklappbare schwarz-gelbe Plattencover mit der Abbildung einer furchterregenden Vogelspinne ist ein visueller und haptischer Hochgenuss. Und dann erst seine Metaphorik! Beim Betrachter entsteht sofort die Assoziation: Das Weibchen frisst das Männchen nach der Paarung. Und hierzu passt auch die Widmung der Platte an Nico, die unsterbliche Velvet-Underground-Chanteuse, deren Vorgruppe die „Philosophen“ in jenen Jahren einmal gewesen sind. (Nico, einst sogar die Geliebte von Alain Delon, war als „männerfressendes Monster“ bekannt…) Und der Text von „Toilet Queen“ tut sein übriges… Das stimmliche Duett von Achinger und Arfmann in diesem Song („Will I still be innocent, when she falls?“) lässt einen wohlig erschauern. Und dann das Cello-Spiel in „Peeping All“, natürlich: Velvet Underground lassen grüßen. Aber auch das Xylophon in “I’m allright (though my hands are trembling)“ ist große Klasse. Und in allen Liedern hören wir Matthias Arfmanns charakteristisch verzerrtes psychedelisches Gittarrenspiel und Katrin Achingers wahrhaft betörende dunkle Stimme. („…als Ausdruck und Enttäuschung ihrer selbst“, hat ein entzückter Musikkritiker einmal über sie geschrieben.) „She’s Allergic“ ist ebenfalls ein überragendes Lied. Und „Dragon Flies Over Cyrenaika“ und das (ausnahmsweise) völlig überdrehte „Maniac Mandrax Fighter“. Und das sehr ruhige Titelstück „Nerves“. Kurz gesagt, die ganze Platte ist großartig.

Wie kamen die Kastrierten Philosophen aber zu ihrem kuriosen Bandnamen? Damals, Anfang der Achtziger, auf ausdrücklichen Wunsch der zu jener Zeit blutjungen Katrin Achinger. Sie habe so viele Leute mit ganz vielen tollen Ideen für Projekte gekannt, aus denen dann nie etwas geworden ist. Aus ihrer Band mit dem verrückten Namen ist dann allerdings eine Menge geworden (abgesehen vom fehlenden kommerziellen Durchbruch). Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet der gemeinsame Sohn der „Kastrierten Philosophen“, David Achinger alias Chassy Wezar (geboren 1994), heute selbst als kreativer Musiker unterwegs ist… Das Urteil für „Nerves“ lautet: sehr gut (17 Punkte).

Kastrierte Philosophen
Nerves
Normal 1988
(Vergriffen)

Veröffentlicht von on Jul 16th, 2018 und gespeichert unter SCHEIBEN VOR GERICHT. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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