Flohmärkte

Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen

Liebes Tagebuch,

seit ich zurückdenken kann, haben mich Flohmärkte fasziniert. Das Problem war nur, dass es damals bei uns im Osten so etwas nicht gab. Und so war es für mich, als ich mit 17 Jahren – ein halbes Jahr vor dem Mauerfall – in den Westen kam, eine große Freude, dass dort an jedem Wochenende irgendwelche Leute an improvisierten Ständen ihren alten Kram zu lächerlichen Preisen anboten. Was es da alles zu entdecken gab! Bald schon verging, außer im Winter, kaum noch ein Wochenende, an dem ich nicht mindestens einen Flohmarkt besuchte, manchmal auch zwei oder mehr. Gelegentlich mit Freunden, meistens aber allein auf eigene Faust stöberte ich zwischen dem alten Krempel vornehmlich nach Büchern und Schallplatten, später auch nach CDs. Doch was ich an den Flohmärkten besonders mochte, war ihre einzigartige Atmosphäre. Damals hätte ich es wohl noch nicht so ausdrücken können, aber über ihnen schwebte ein Hauch von Melancholie. Dinge, die irgendwann mal angeschafft wurden, aber nun nicht mehr gebraucht werden, zeugen immer von Hinfälligkeit, Vergänglichkeit, Vergeblichkeit. Ganz anders als die glitzernden Warenhäuser und Konsumtempel, die ich schon damals – vor fast dreißig Jahren – als regelrecht obszön empfunden habe. Flohmärkte hingegen waren für mich immer auch geheimnisvoll. Das begrenzte Taschengeld, das mir damals zur Verfügung stand, brachte es mit sich, dass jeder Kauf lange überlegt und abgewogen wurde. Aber der besondere Reiz lag gerade auch im Zufallsprinzip: Man stieß auf Dinge, an die man nie zuvor gedacht hatte, und verliebte sich manchmal in sie.

Heute haben Flohmärkte für mich einiges von ihrem früheren Zauber verloren. Das merke ich, wenn ich sie jetzt wieder häufiger besuche. (Und es gibt in Berlin jede Woche angeblich über fünfzig von ihnen, der Flohmarkt-Boom ist also ungebrochen). Lange Jahre waren meine Wochenenden beruflich verplant, und außerdem musste ja immer eisern gespart werden. Nun wird mir langsam bewusst, wie die Konkurrenz im Internet, etwa Ebay Kleinanzeigen, wo sogar unzählige Dinge verschenkt werden, den Charakter der Flohmärkte verändert hat. Oder ist es vielleicht nur der eigene Blick auf sie, der nicht mehr der alte ist? Eigentlich habe ich ja schon alles und brauche gar nichts mehr. Es gibt von allem zu viel in der Wohnung. Wenn schon, dann müsste noch konsequenter reduziert werden, statt weiteren Plunder anzuhäufen. Und ich kaufe nicht mehr irgendwelche Bücher, um sie – vielleicht – irgendwann einmal zu lesen. Dazu ist das Leben, wie mir inzwischen schmerzhaft ins Bewusstsein gestiegen ist, zu kurz. Man weiß jetzt, in der zweiten Lebenshälfte, dass man nur noch begrenzte Zeit zur Verfügung hat, der Horizont rückt schon bedrohlich nahe. Also lieber erst mal das lesen, was man unbedingt noch lesen will im Leben. Und dann ist mir durch den Tod meiner Eltern auch bewusst geworden, dass ein großer Teil der Sachen auf dem Flohmarkt vermutlich aus irgendwelchen Nachlässen stammt. Gerade Flohmärkte führen einem überdeutlich die Endlichkeit unseres Daseins vor Augen. Werden womöglich eines hoffentlich noch fernen Tages auch all die vielen schönen Dinge, die ich in meinem Leben angehäuft habe, auf einem Flohmarkt verhökert werden? Das wäre, wenn ich so darüber nachdenke, noch nicht einmal das Schlechteste und allemal besser als die unbesehene Entsorgung. Vielleicht sollte ich dies sogar als ausdrücklichen Wunsch in mein Testament schreiben…

Dein Johannes

Veröffentlicht von on Sep 3rd, 2018 und gespeichert unter JOHANNES, LIEBES TAGEBUCH. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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