Justament-Autor Thomas Claer erinnert sich an Judith Hermanns gefeierten Erstling
Herbst 1998. Dieser kleine Erzählungsband einer gerade erst 28-jährigen Debütantin schlug ein wie eine Bombe. Ein seltsam verzückter Marcel Reich-Ranicki bekannte im Literarischen Quartett: „Ob das ein gutes, ein sehr gutes Buch ist, ich weiß es nicht. Aber ich weiß etwas anderes: dass wir eine neue Autorin bekommen haben und eine hervorragende Autorin. Nicht alle diese Geschichten sind gut, gewiss, aber es sind etwa vier, fünf, die mir ungewöhnlich scheinen… Der zentrale Satz dieses Buches lautet, und dieser Satz hat mich verblüfft, er scheint mir ungeheuerlich. Ich habe diesen Satz so noch nicht gelesen: ‚Glück ist immer der Moment davor.‘ Ein ganz erstaunlicher Satz. Und davon erzählen diese Geschichten…“ Sein Kollege Hellmuth Karasek glaubte, den „Sound einer neuen Generation“ zu hören und erkannte „neue Landschaften in der Literatur, neue Realitäten, auf die wir gewartet haben, und die es so dargestellt noch nicht gegeben hat.“ Nur Frau Löffler hatte wie üblich etwas zu bekritteln („Ein sehr eng umschriebenes Milieu, ein überschaubares Ambiente“).
Tags darauf kaufte ich mir das Buch in der Bielefelder Universitätsbuchhandlung und begann sofort zu lesen. Es war ganz nach meinem Geschmack. Die Geschichten spielten in einer Welt, die mir fremd war, aber gerade dadurch eine große Anziehungskraft auf mich ausübte. Waren wir damals eigentlich schon auf dem Sprung nach Berlin? Jedenfalls hat wohl auch dieses Buch dazu beigetragen, vier Jahre später endlich diesen Schritt zu wagen. Eine tiefe Melancholie durchzieht diese Erzählungen; ihr besonderer Zauber liegt in der sprachlichen Verknappung und den vielfältigen zarten Andeutungen. Nun ist es eine Binsenweisheit, dass jeder Leser eines Buches jeweils ein anderes Buch liest. Doch diese Geschichten mit ihren vielen Leerstellen fordern die Phantasie des Lesers auf besondere Weise heraus. Die Tragik dieser Autorin liegt darin, dass sie in ihren späteren Veröffentlichungen niemals wieder auch nur annähernd dieses hohe erzählerische Niveau erreichen konnte. (So ist das, wenn eine junge, hoffnungsvolle Autorin durch die Verwertungsmühlen des Literaturbetriebs gedreht wird.) Doch ändert dies – auch im Rückblick nach zwei Jahrzehnten – nichts am einzigartigen Rang von „Sommerhaus, später“.
Es versteht sich von selbst, dass man bei erneuter Lektüre mit großem zeitlichen Abstand wiederum ein anderes Buch liest. Besonders aufgefallen ist mir erst jetzt die – eigentlich sehr traditionelle – Immobilien-Metaphorik, vor allem in der Titelgeschichte. „Riesig und fremd und schön“ wirken die Häuser in der Frankfurter Allee auf die Ich-Erzählerin. Sie hat den Blick der jungen West-Berliner jener Zeit, denen sich neben ihrer alten Stadt plötzlich und unerwartet eine andere, neue geöffnet hat, die es zu entdecken gilt. Der junge, schöne (aus dem Osten stammende!) Taxifahrer, der die Ich-Erzählerin immer wieder durch die Frankfurter Allee kutschiert, während sie Massive Attack hören, versucht einiges, um ihre Liebe zu gewinnen. In ihrer freizügigen Künstler-Clique fühlt er sich nie so richtig wohl. Obwohl es hinsichtlich ihrer Freundinnen heißt: „Er vögelte sie alle“, ist es am Ende doch nur die Ich-Erzählerin, die ihm etwas bedeutet. Schließlich geht er aufs Ganze und kauft – nur für sie! – ein verfallenes Sommerhaus in Brandenburg, um ihr darin gewissermaßen ein Nest zu bauen. Kaufpreis: 80.000 Mark. („Woher hast du 80.000 Mark??“ „Du stellst die falschen Fragen.“) Sie muss nur noch einziehen. Aber ihr geht das zu schnell. Monatelang lässt sie alle seine Postkarten unbeantwortet; wenn aber mal einen Tag keine kommt, ist sie enttäuscht. „Später“, denkt sie. Am Ende hat sie zu hoch gepokert, und die Katastrophe nimmt ihren Lauf. Oder liegt gerade hierin der ultimative Liebesbeweis?
Ebenfalls um ein Sommerhaus geht es in der Erzählung „Diesseits der Oder“, die mir schon damals besonders gefallen hat. Ein 47-jähriger Berliner Drehbuchautor verbringt die warme Jahreszeit mit Frau und kleinem Kind im Oderbruch. „Alles Schwachsinn. Er reibt sich die Augen und fühlt sich müde. Die Zeiten, in denen er jedermann: ‚Was denkst du?‘ und ‚Was machst du?‘ gefragt hat, sind vorbei. Koberling kann sich nicht vorstellen, diese Fragen überhaupt je gestellt zu haben. Widerliche, fast peinvolle Erinnerung an nächtelanges Kneipenhocken, an Idealaustausch, Illusionszertrümmerung, emporgezüchtete Gemeinschaftlichkeit. Verlogen alles, denkt Koberling.“ Und: „Liegenbleiben. Einfach liegenbleiben, im Erschöpfungszustand, in der Schaukel zwischen Wachen und Träumen. Niemals hat er sich am Morgen, nach achtstündigem Schlaf, erfrischt und ausgeruht gefühlt. Immer erschöpft. Früher, in den Nächten in seiner Einzimmerwohnung, Berlin und Winter, war er eingeschlafen mit einem Grauen vor all den Tagen, Monaten, Jahren, die da noch auf ihn warteten. Eine Zeit. Eine Zeit, die ausgefüllt, besiegt, zunichte gemacht werden musste. Dann kam Constanze…“ Einen solch tiefen Blick eines so jungen schreibenden Menschen in die Seele seiner literarischen Figuren gab es wohl zuletzt 1901, als Thomas Mann 25-jährig die „Buddenbrooks“ verfasste…
Die vielleicht verstörendste Geschichte in „Sommerhaus, später“ ist „Sonja“. Beim erneuten Lesen konnte ich mich kaum noch an irgendwelche Einzelheiten der Handlung erinnern, und schon gar nicht an das Ende, dafür aber sehr genau an die Atmosphäre: Berlin der Nachwendezeit, verfallene Häuser, riesige Altbauwohnungen mit Kohleofenheizungen, Partys mit Tom Waits-Beschallung und absonderlichen Gesprächen unter absonderlichen Menschen. Ein Künstler, dessen Leben anfangs in ruhigen Bahnen verläuft, trifft auf eine kleine exzentrische junge Dame, die sich beharrlich in sein Leben drängt und ihn schließlich emotional von sich abhängig macht…
Und schließlich spielt noch eine der Geschichten weit weg von Berlin, auf einer Karibikinsel, wo zwei Freundinnen zusammensitzen. „Das Spiel heißt ‚Sich-so-ein-Leben-vorstellen‘, es hat keine Regeln. Man kann es spielen, wenn man auf der Insel abends bei Brenton sitzt, man sollte zwei, drei Zigaretten rauchen und Rum-Cola trinken…“ Von diesen kleinen, feinen, so sehr dem damaligen Zeitgeist verhafteten und dennoch ganz zeitlosen Erzählungen kann man sich immer wieder aufs Neue bezaubern lassen.
Judith Hermann
Sommerhaus, später
Fischer Taschenbuchverlag
192 Seiten; 12,00 Euro
ISBN: 978-3-596-14770-0