Deutsche Juristenbiographien, Teil 23: Günter Dürig (1920-1996) bestimmte den Weg der Rechtsprechung wie kein Zweiter
Matthias Wiemers
Wohl niemand hätte gedacht, dass der am 25. Januar 1920 als Sohn eines preußischen Beamten in Breslau geborene Günter Dürig einmal ein Staatsrechtslehrer von besonderer Bedeutung werden würde – wohl auch nicht er selbst. Der junge Katholik wird als Georgspfadfinder Mitglied der Bündischen Jugend.
Nach dem Abitur an einem humanistischen Breslauer Gymnasium im Jahre 1937 und halbjährigen Dienst beim Reichsarbeitsdienst schlägt er 1938 zunächst die Offizierslaufbahn bei der Kavallerie im schlesischen Oels ein und nimmt – wie viele Vertreter seiner Altersklasse – am Zweiten Weltkrieg vom ersten bis zum letzten Tag teil. Er ist zuletzt Rittmeister (Hauptmann) in der Division „Großdeutschland“, die als Elitetruppe gilt. Die Division ist in Polen, Frankreich und Rußland eingesetzt, wobei Dürig mehrfach schwer verwundet wird, zuletzt im März 1945 durch einen in Ostpreußen erlittenen Kopfschuss. Nach Lazarettaufenthalt am Tegernsee nimmt Dürig 1946 das Studium der Rechtswissenschaften in München auf, absolviert innerhalb fünf Jahren beide Staatsexamina und promoviert 1949 und habilitiert sich bereits 1952 jeweils bei seinem Lehrer Willibalt Apelt. Thema der Doktordissertation, die im Wesentlichen in einer Kneipe geschrieben sein soll, sind „Die konstanten Voraussetzungen des Begriffs Öffentliches Interesse“, Titel der Habilitationsschrift „Freiheitsrecht und Sozialpflicht im Grundgesetz, dargestellt am Eigentum“. Noch im WS 1953/54 erfolgt die Vertretung Carlo Schmids in dessen Tübinger Lehrstuhl, dessen offizieller Nachfolger Dürig 1956 wird. Bereits 1954 erfolgt der Vortrag auf der Staatsrechtslehrertagung zum Thema „Der deutsche Staat im Jahre 1945 und seither“, wo Dürig die These vom Fortbestand des Deutschen Reiches vertritt.
Der Schwerpunkt des wissenschaftlichen Werks liegt freilich nicht im Staatsorganisationsrecht, sondern eher in den Grundrechten, was sich bereits in der Habilitationsschrift andeutet. Hier besonders wirkt er als Pionier. Namentlich seine frühe Ausdeutung der Menschenwürdegarantie – 1952 u. d. T. „Die Menschenauffassung des Grundgesetzes“ und vier Jahre später mit „Der Grundsatz von der Menschenwürde“ haben insbesondere dem jungen Bundesverfassungsgericht den Weg gewiesen. Die „Objektformel“, um zu ermessen, wann die Menschenwürde verletzt ist, stammt von Günter Dürig. Er hat Art. 1 GG in dem von ihm seit 1958 mitherausgegebenen Grundgesetzkommentar so meisterlich kommentiert, dass kein Geringerer als Ernst-Wolfgang Böckenförde nach Ablösung dieser Kommentierung rund 35 Jahre später dem Beck-Verlag empfahl, die Kommentierung Dürigs gesondert herauszugeben. Genauso grundlegend war Dürigs Kommentierung des Art. 2 Abs. 1 GG im Sinne eines Hauptfreiheitsrechts und Auffanggrundrechts. Komplettiert wurde diese Grundsatzarbeit am Grundgesetz durch die Erstkommentierung auch des Art. 3 GG, die allerdings erst 1973 erfolgte – nicht ohne Grund, wenn man bedenkt, dass es Dürigs Anspruch war, ein möglichst geschlossenes Wert- und Anspruchssystem der Grundrechte zu entwickeln. Der Umfang dieser Kommentierung war mit 353 Seiten für die damalige Zeit absolut herausragend und ist bis heute nicht wieder erreicht worden. Die Gleichheit hat in diesem System nur eine dienende Funktion gegenüber dem Vorrang der Freiheit, der Mensch wird in seiner Wesenheit als Person aufgefasst.
Aber auch das Eigentumsgrundrecht – im Anschluss an die Habilitationsschrift – deutet Dürig frühzeitig aus, zum Freizügigkeitsrecht schreibt er den Artikel im Handbuch „Die Grundrechte“. In der von ihm mitherausgegeben Losblattsammlung des Baden-Württembergischen Landesrechts erfindet Dürig den von anderen so genannten „Geheimkommentar“, indem er im Sachverzeichnis einzelne Begriffe erklärt.
Rufe nach Kiel, Bonn, Köln und München lehnt Dürig ab. Am 22. November 1996 ist Günter Dürig, der zeitlebens unter seinen schweren Kriegsverletzungen litt und deshalb nur bis 1982 lehren konnte, in seiner Wahlheimat Tübingen gestorben.
Von Fachgenossen wird er als der einflussreichste Staatsrechtslehrer bis heute qualifiziert.
Quellen:
Otto Bachof, Günter Dürig zum 65. Geburtstag, in: AöR 1985, S. 93 ff.
Hans-Ulrich Büchting, Günter Dürig, in: Juristen im Portrait, FS zum 225 jährigen Bestehen des Verlages C. H. Beck, S. 280 ff.
Walter Schmitt Glaeser, In Memoriam Günter Dürig, in: AöR 1997, S. 134 ff.