Harald Jähners „Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen, 1945-1955“ ist Gewinner des Leipziger Buchmessenpreises in der Kategorie Sachbuch
Benedikt Vallendar
Harald Jähner ist Germanist und promovierte über Döblins „Berlin Alexanderplatz“. Später war er Feuilletonchef der Berliner Zeitung. Jetzt hat Jähner mit „Wolfszeit“ ein Buch geschrieben, das ein anderes Stimmungsbild der deutschen Nachkriegsgesellschaft zeichnet: Die Menschen von damals sehnten sich nach Vergnügen.
Als der Krieg zu Ende war, standen die Deutschen vor dem Nichts. Die selbstverschuldete Katastrophe war ohnegleichen. Wie sollte ein Volk nach der unvorstellbaren Schuld, die es auf sich geladen hatte, weiterleben? Doch überlagert wurde diese Frage zunächst durch ein anderes, unmittelbar dringlicheres Problem: Wie ließ sich überhaupt überleben?
Viele Städte waren nicht mehr wiederzuerkennen, haushoch türmten sich die Trümmer. Ausgebombte, Verschleppte und Flüchtlinge aus dem Osten drängten sich auf engem Raum. Auf dem Schwarzmarkt suchten ausgemergelte Gestalten nach Essbarem. Die kollektive Erinnerung an die Zeit wird von solchen Bildern des Elends bestimmt. Aber darin spiegelt sich nur die halbe Wahrheit, glaubt Harald Jähner.
Hört man genauer hin, hört man die Leute tatsächlich lachen. Sie waren entronnen und hatten wirklich Lust zu feiern. Diese Tatsache wurde aber im Nachhinein aus der Erzählung der Nachkriegszeit Stück für Stück wieder verdrängt, weil die Leute sich natürlich als Opfer darstellen wollten, auch um sich selber ein bisschen zu entschulden.
Doch Harald Jähner will mit seinem Buch die ganze Wirklichkeit zeigen. Er schaut dazu auf den Alltag der Menschen und erzählt, wie sie mit der Ausnahmesituation klargekommen sind. Dass die chaotische Zeit bei weitem komplexer und vielfältiger war als die nachträgliche Sicht darauf, ist eine überraschende Einsicht des Buches. Zu dessen faszinierendsten Aspekten zählt, dass sich zuweilen gerade die größten Herausforderungen der Zeit als Glücksfälle der späteren Entwicklung erwiesen.
Harald Jähner
Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen, 1945-1955
Rowohlt Verlag Berlin, 5. Auflage 2019
480 Seiten; 26 Euro
ISBN-10: 3737100136