Recht cineastisch, Teil 7: „Die Fremde“ mit Sibel Kekilli
Thomas Claer
Es kommt nicht alle Tage vor, dass die Leute um einen herum im Kino laut schluchzen, knisternd ihre Taschentücher herauskramen und ihren Tränen der Rührung freien Lauf lassen. Man fühlt sich dann an die legendenumwobene Premiere von Schillers „Die Räuber“ am 13.1.1782 im Nationaltheater Mannheim erinnert, wo sich wildfremde Menschen weinend in den Armen gelegen haben sollen. Und wie weiland der junge Friedrich Schiller gegen überkommene gesellschaftliche Konventionen rebellierte, erhebt die österreichische Regisseurin und Schauspielerin Feo Aladag mit ihrem hier in Rede stehenden Debütfilm auf herzergreifende Weise Anklage gegen familiäre Gewalt und aggressiven Traditionalismus im Berliner türkischen Migrantenmilieu. Doch zeigt der Film gleichzeitig so viel Mitgefühl, Verständnis, ja heiße Anteilnahme für die in ihren Traditionen gefangene türkische Familie, dass der Zuschauer am Ende auch den Tätern seine Empathie kaum verweigern kann.
Die 25-jährige nach Istanbul zwangsverheiratete Berliner Deutschtürkin Umay (glänzend gespielt von Sibel „Ich war jung und brauchte das Geld“ Kekilli) verlässt ihren gewalttätigen Ehemann und kehrt mit ihrem ca. fünfjährigen Sohn Cem nach Berlin zurück. Dort macht ihr die gesamte Großfamilie nun fortdauernd die Hölle heiß und will ihren kleinen Sohn zurück zu dessen Vater in die Türkei bringen, was Umay gerade noch rechtzeitig durch Flucht in ein Frauenhaus verhindern kann. Aber Umay, die sich einen Job und ein selbstbestimmtes Leben organisiert, die ihr Abitur nachholen und studieren will, zieht es fatalerweise immer wieder zurück zu ihrer einerseits gefürchteten, andererseits schmerzlich vermissten Familie – bis die von heiligem Zorn gepackten Brüder zur Tat schreiten. Diese mündet allerdings in eine besonders tragische aberratio ictus: Letztlich erwischt es den kleinen Jungen.
Mag sein, dass es in „Die Fremde“ hin und wieder etwas zu pathetisch zugeht, eine Spur zu dick aufgetragen wird. Doch hat dieser Film – nur ohne happy end – das Zeug dazu, für unsere Deutschtürken das zu werden, was für die Ostdeutschen seit einigen Jahren „Das Leben der Anderen“ ist: ein Appell an die Mehrheitsgesellschaft: „Seht diesen Film und ihr werdet uns verstehen!“
Die Fremde
Deutschland 2010
Regie: Feo Aladag
Drehbuch: Feo Aladag
119 Minuten, FSK: —
Darsteller: Sibel Kekilli, Nizam Schiller, Derya Alabora, Settar Tanriögen, Serhad Can, Almila Bagriacik, Tamer Yigit u.v.a.