Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk im Gespräch am 80. Jahrestag des Zweiten Weltkriegsendes, Teil 2
Man sprach ja zu DDR-Zeiten vom „Tal der Ahnungslosen“. Das waren die Regionen in der DDR ohne Westfernseh-Empfang, also vor allem die Gebiete in Vorpommern und östlich von Dresden. Wirkt das „Tal der Ahnungslosen“ vielleicht heute noch nach? Haben nicht diese Gegenden tendenziell einen besonders hohen AfD-Anteil bei Wahlen? Und könnte nicht insbesondere auch die zu DDR-Zeiten fehlende Empfangbarkeit von westlichen Kindersendungen, die ja sehr multikulturell und reformpädagogisch waren (wie „Sesamstraße“ oder „Sendung mit der Maus“), die Menschen in diesen Gegenden viel anfälliger für Rassismus gemacht haben?
Also es war zu DDR-Zeiten so, dass insbesondere in Südost-Sachsen, wo es keinen einfachen Empfang von Westmedien gab (was allerdings so auch nicht ganz stimmte), die Ausreisewellen und -quoten höher waren als anderswo im Land. Das hat man sich damals so erklärt, dass dort eine größere Romantisierung des Westens erfolgte als dort, wo man westfernsehen konnte. Das traf aber bereits auf die Achtzigerjahre nicht mehr richtig zu, weil dann schon Gemeinschaftsantennen gebaut wurden, die irgendwann nicht mehr verhindert wurden. Es gab sogar in Zeitschriften wie „praktika“oder in nachrichtentechnischen Zeitschriften Arbeitsanleitungen, wie man solche Gemeinschaftsantennen bauen kann, und die auf dem Berg erichtet, so dass das ganze Dorf Westfernsehen schauen kann. Das hatte damals durchaus hohe Auswirkungen. Heute glaube ich an diese Art Spätfolgen diesbezogen nicht, weil: Klar, wir haben uns immer über das „Tal der Ahnungslosen“ in diesen beiden von Ihnen genannten Gebieten lustig gemacht, aber so ahnungslos waren die auch nicht. Den Deutschlandfunk konnte man dort trotzdem empfangen über Mittelwelle. Das haben auch viele gemacht. Ich glaube, da wirken ganz andere Kräfte, historische Traditionen, viel stärker, gerade in Sachsen: der Abscheu gegenüber Preußen, der Abscheu gegenüber dem Zentrum in Berlin. Das sind alles viel ältere Ressentiments, die zu Ost-Zeiten weiterwirkten und danach, nach 1990, neu aufbrachen. Und so weiter und so fort, das kann man auch anhand der Weimarer Republik sehen. Deshalb diese unterschiedlichen Entwicklungen in verschiedenen Regionen. Und wenn man sich heute die Wahlen anschaut, das politische Klima, dann wird man zwischen dem Landkreis Plauen, direkt an der Grenze zu Hof gelegen, und Görlitz keinen großen Unterschied feststellen. Das gleiche gilt für Greifswald und Wismar. Da gibt es in den ländlichen Regionen auch keine großen diesbezüglichen Unterschiede mehr in den Negativentwicklungen.
Nächste Frage: War es aus Ihrer Sicht richtig, zu den Gedenkfeiern am heutigen 8. Mai keine russischen und belarussischen Vertreter einzuladen?
Aber selbstverständlich. Die Hauptlosung lautete: „Nie wieder!“ Die Russländische Föderation mit Unterstützung von Belarus ist aktuell Kriegsführer. Das ist ein Vernichtungsfeldzug gegenüber der Ukraine. Diese einen Angriffskrieg führenden Parteien haben bei einer Feier zum Gedenken an ein Kriegsende nichts zu suchen. Hinzu kommt noch die kriegspolitische Offerte: Russland instrumentalisiert ja den Zweiten Weltkrieg als seinen Krieg, als ob keine anderen auf seiner Seite beteiligt gewesen seien. Die größte Opfergruppe in diesem Krieg auf Seiten der Sowjetunion waren aber die Ukrainer und die Belarussen. Das unterschlagen Putin und der Kreml geflissentlich im Geschichtsunterricht und überall. Insofern ist es selbstverständlich, dass die nicht eingeladen werden. Wir stehen, jedenfalls politisch und was viele Menschen betrifft, auf der Seite der Ukraine. Und da haben die Russen gerade bei diesen Feierlichkeiten nichts zu suchen. Sie müssen auf allen Ebenen in absoluter Gänze isoliert werden. Das gelingt auf der weltpolitischen Ebene nicht, nicht zuletzt wegen China und Indien. Aber wir als Europäer sollten das so machen. Ich finde das richtig. Wobei ich erwähnen möchte, dass ich ukrainische Vorfahren habe. Ich rede hier also gewissermaßen parteiisch und betroffen. Für mich ist das in Russland ein Verbrecherregime. Die gehören eigentlich gar nicht an den Verhandlungstisch, sondern die gehören nach Den Haag (Sitz des „Haager Tribunals“, des Internationalen Strafgerichtshofs; d. Red.).
Apropos Isolation: Denken Sie, dass sich auf mittlere und lange Sicht das Konzept der Brandmauer gegen die AfD noch aufrechterhalten lässt? Besonders in vielen ostdeutschen Regionen und Bundesländern ist es ja schon sehr schwierig geworden, das durchzuhalten, und möglicherweise wird es in Zukunft sogar noch schwieriger werden…
Man muss ja immer unterscheiden zwischen Landes-/Bundesebene und der kommunalen Ebene. Mir ist vollkommen klar, dass auf einer kommunalen Ebene, wo sich die Leute alle kennen, in den kleinen Städten, auf den Dörfern, wenn da 30, 40, 50, 60 Prozent die AfD wählen – neulich war ich in einem Dorf, da waren sogar 70 Prozent AfD-Wähler, – da kann man schlecht von Brandmauern reden, weil: die kennen sich alle. Da kann man pragmatisch rangehen und sagen: O.k., auf der Ebene einer Kleinstadt wird nicht Krieg und Frieden verhandelt, sondern da geht es um die Reparatur der Freiwilligen Feuerwehr, um den Stadtpark und den Dorfteich, und da müssen die miteinander reden. Aber das gilt halt nicht für die Landesebene und für die Bundesebene. Was passiert nun, wenn nächstes Jahr bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt die AfD die absolute Mehrheit erringen sollte? Und das droht. Das wird der Lackmus-Test nächstes Jahr. Dann wird man sehen, dann gibt es kein Halten mehr. Und insofern kann ich nur sagen: Es sind in der Vergangenheit dramatische Fehler von der Politik gemacht worden. Es ging da los, dass man ein Verbotsverfahren gegen diese faschistische Partei schon längst hätte in Gang setzen müssen. Wahrscheinlich ist es dafür jetzt zu spät, egal was der Verfassungsschutz sagt. Ich finde es ja eigentlich spannend, ob jemand jetzt noch den Mut aufbringt, ein Verbotverfahren in Gang zu setzen. Ich glaube das eigentlich nicht, denn man würde sich ja automatisch gegen 10 Millionen WählerInnen stellen. Das darf man nicht vergessen. Das ist also die eine Katastrophe. Die zweite Katastrophe war, wenn wir uns den letzten Bundestagswahlkampf anschauen: Fast alle Parteien haben die AfD-Sprache übernommen. Sie haben nicht nur die Themen übernommen, sondern auch die Sprache. Und das ist ein Riesenproblem. Man schlägt nicht einen Feind der Demokratie und Freiheit, indem man versucht, ihn rechts zu überholen, sondern man greift die Themen auf und füllt sie mit eigenen Inhalten und widerspricht dem. Und das ist viel zu selten passiert. Und insofern ist das jetzt eine Situation, die mir fast wie eine Sackgasse erscheint. Und deswegen habe ich auch vorhin davon gesprochen, dass wir an der Schwelle zu einem autoritären Zeitalter stehen, weil wir auch jetzt beobachten können: Die AfD wird in der Gunst ihrer potenziellen WählerInnen nicht verlieren. Sie wird vermutlich in den nächsten Wochen und Monaten eher noch zulegen. Und dann haben wir nicht nur ein politisches Problem, und ich schaue wirklich düster in die Zukunft.
Das ist sehr beunruhigend, für uns auch. Kommen wir noch zu den aktuellen Faschismusdebatten: Ist Trump in Ihren Augen ein Faschist? Das haben Sie schon beantwortet, ganz klar. Ist Putin ein Faschist? Ja, selbstverständlich auch. Wie ist es mit den Tech-Milliardären aus Amerika?
Die sind ja die eigentlichen Machthaber. Das haben wir in den letzten Wochen so eindringlich vor Augen geführt bekommen, wie sich das Karl-Eduard von Schnitzler nicht hätte träumen lassen. (Der berühmteste Propagandist des kommunistischen Regimes, der jede Woche montags im DDR-Fernsehen eine halbe Stunde lang gehetzt hat.) Das hätte sich ja niemand träumen lassen, dass das so offen funktioniert. Dass die Tech-Milliardäre so offen ihre Macht demonstrieren. Dass sie die eigentliche Macht haben. Und das ist auch das eigentliche Problem in unserer Welt: Wir erleben ja gegenwärtig eine globale digitale Revolution, und niemand weiß, wohin uns diese globale digitale Revolution führt. Niemand weiß, ob unser Arbeitsplatz, den wir heute haben, morgen noch existieren wird. Das verunsichert viele Menschen. Viele Menschen sind getrieben von Verlustängsten, gerade in der westlichen Welt, weil nur dort die Menschen wirklich verlieren können in breiten Schichten. Diese Verlustängste sind extrem, und diese Verlustängste treiben dann viele Menschen in die Arme derjenigen, die ganz einfache Antworten haben. Diese Extremisten sagen ja nichts anderes als: Wir führen euch in die Zukunft, und die Zukunft wird so aussehen, wie die harmonisierte Vergangenheit schon mal war. Also sie arbeiten mit Lügen, mit völkischen Argumenten, mit rassistischen Argumenten. Sie sagen ja auch immer, wer schuld ist, das sieht man ja ganz klar. Es sind immer rassistische Argumente, indem man Schuldgruppen definiert. Es sind alles letztlich faschistische Argumente. Und da sind die Tech-Milliardäre in den USA keine Kräfte, die das aus rein egoistischen Gründen machen. Ich habe bisher immer gedacht, sie machen das nur aus Profitgründen. Aber sie wollen ja tatsächlich die Macht haben. Das hat man nun an Musk sehr gut gesehen. Das sieht man an den anderen Falken ganz genauso, wie sie auch eingeknickt sind vor Trump. Und insofern: Ja, sie sind Teil des faschistischen Systems.
Würden Sie eine Prognose wagen, wie der Ukraine-Krieg ausgehen wird?
Am Verhandlungstisch. Das war von Anfang an klar. Jeder Krieg endet am Verhandlungstisch. Ich hoffe, dass das ein Verhandlungstisch wird wie in Deutschland oder wie in Japan, wo die Schuldigen am Krieg entsprechend bedingungslos eine Kapitulationsurkunde unterzeichnen müssen. Aber das ist natürlich eine Hoffnung, die nicht in Erfüllung gehen wird. Das ist mir vollkommen klar. Es wird mit einem schlimmen Kompromiss enden. Egal, wie auch immer, es wird ein schlimmer Kompromiss. Schlimm deshalb, weil Putin und sein Regime – oder zumindest der Kreml, denn vielleicht stirbt Putin vorher – über einen Kompromiss zurück auf die Weltbühne finden werden. Über ihre Verbündeteten China, Indien und Brasilien, die sie auf die Weltbühne zurückhieven werden, mit Unterstützung wahrscheinlich von Trump. Der schlimme Kompromiss wird sein, dass die Waffen scheinbar schweigen, aber die Russen Gebiete okkupieren können, also ukrainisches Territorium behalten können, höchstwahrscheinlich die Krim, wahrscheinlich Teile der Ost-Ukraine. Das war auch von Anfang an irgendwie klar. Es hängt natürlich auch mit dem unentschiedenen Handeln Europas zusammen, sozusagen einer Politik, die der Ukraine alles gibt, damit sie nicht verliert, aber nichts gibt, damit sie gewinnt. Das sind ja zwei verschiedenene Dinge. Sie kriegt genügend, um nicht zu verlieren, aber nicht genug, um zu gewinnen. Und deswegen wird das wahrscheinlich mit einem schlimmen Kompromiss enden. Russland wird am Ende auch nicht als strahlender Sieger dastehen: mit zerrütteter Wirtschaft, mit völlig zerrütteten Staatsfinanzen, die nicht über Nacht wieder in Ordnung gebracht werden können. Die NATO hat jetzt mit Russland eine 1.500 km längere Grenze als vorher. Vorher gab es kaum NATO-Grenzen mit Russland. Jetzt hat Russland eine extrem lange NATO-Grenze mit Finnland. Für Russland ist das alles also auch kein großer Sieg, aber sie werden das anders verkaufen. Ich gehe aber davon aus, dass der Krieg noch länger dauert, als es uns allen recht ist. Und nochmal, damit keine Missverständnisse aufkommen: Ich hoffe auf einen Sieg der Ukraine auf ganzer Front.
Das hoffen wir auch, aber wahrscheinlich vergeblich… Sie haben sich ja vorhin schon kritisch geäußert über die verteidigungspolitischen Fähigkeiten von Deutschland aktuell. Halten Sie es zumindest mittelfristig für denkbar, dass Deutschland eine verteidigungspolitische Führungsrolle in Europa übernehmen kann? Deutschland wurde ja zuletzt ausdrücklich von einigen amerikanischen Stimmen darum gebeten. Etwa Prof. Timothy Snyder hat sich so geäußert. Halten Sie das für realistisch?
Wir reden ja immer auf zwei Ebenen. Die eine Ebene ist Technik, ist Personal, also sprich Geld. Das ist nicht Deutschlands Problem. Das war Deutschlands Problem, weil in den letzten 30 Jahren die Armee massiv abgerüstet wurde, vernachlässigt wurde. Das lässt sich beheben. Das ist eine Frage von Geld, und Deutschland hat viele Probleme, aber keine Geldprobleme. Das wird immer nur so dargestellt. Das eigentliche Problem ist aber: Verteidigung fängt im Kopf an. Du brauchst eine Mentalität und eine Bereitschaft, dein Land und deine Werte zu verteidigen. Und diese Bereitschaft gibt es in Deutschland nicht. Um es auf den Punkt zu bringen: Wenn Russland Deutschland angreifen würde, das erste, was in Deutschland ausverkauft wäre, wären weiße Bettlaken. Und das ist das eigentliche Problem. Ich bin nach wie vor ein großer Verteidiger des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung. Das ist in meinen Augen ein Menschenrecht. Das gehört zu unserer politischen DNA. Aber das ist kein Widerspruch dazu, dass trotzdem eine Gesellschaft bereit sein muss, sich, ihre Grenzen und ihre Werte zu verteidigen. Und diese Bereitschaft sehe ich kaum. Wir sind eine stark pazifizierte Gesellschaft, was zu Friedenszeiten ein großer Vorteil ist. Aber wir haben keine Friedenszeiten mehr, um das ganz klar zu sagen. Wir leben längst im Krieg. Wir haben längst einen Weltkrieg. Die meisten Menschen akzeptieren das bloß nicht, weil es sie nicht interessiert. Weil sie es sozusagen ignorieren, dass tagtäglich auf die kritischen Infrastrukturen unserer Gesellschaft Angriffe stattfinden. Und das sind keine Bombenangriffe. Das sind Cyberangriffe, die weitaus größere Auswirkungen haben, als vielen Menschen bewusst ist. Vor allem auch psychologische, psychische Auswirkungen. Und Russland und China sind unentwegt dabei, diesen Cyberkrieg zu führen, der teilweise ja auch ein physischer ist, wenn man daran denkt, wie sie Unterseekabel kappen u.s.w. Das ist ja Teil ihres Cyberkriegs. Und wenn man an ihren Propagandakrieg denkt, wie Narrative mit hunderttausenden Bots nach Europ einfließen, wie auch hier in der Politik überall Agenten und Spitzel sind u.s.w., da gibt es meines Erachtens keine adäquate Reaktion darauf aus der Gesellschaft heraus. Und insofern: Die Verteidigung, die in den Köpfen anfängt, ist in Deutschland ganz anders als in den skandinavischen Ländern, ganz anders als in Polen, ganz anders als in den Niederlanden, ganz anders als in England oder Frankreich oder Spanien, wo es das alles gibt. Das alles gibt es in Deutschland nicht. Und es hat natürlich auch etwas mit dem Nationalsozialismus zu tun und den Jahrzehnten danach, mit der Politik, und dann aber eben auch mit einer verfehlten Sicherheits- und Verteidigungspolitik seit der Herstellung der Deutschen Einheit. Das ist aber kein Schuldvorwurf. Ich habe das natürlich auch nicht anders gesehen. Ich fand das auch wie viele, vor allem in den Neunzigerjahren, toll. Allerdings bin ich auch umgeschwenkt. Damals in den Neunzigerjahren gehörte ich sehr frühzeitig zu den Befürwortern militärischer Einsätze auf dem Balkan zur Verhinderung von Massenmorden, zur Wiederherstellung der Menschenrechte. Da war ich unter meinen politischen Freunden in den Neunzigerjahren in einer absoluten Minderheit. Aber das musste ich eben auch erst lernen. Und jetzt müssen viele Deutsche lernen, dass die Verteidigungsbereitschaft zu unserer politischen DNA zählen muss, wenn man nicht untergehen will, denn ich bin fest davon überzeugt, dass Russland längst an weiteren Plänen arbeitet und sich massiv darauf vorbereitet, Europa anzugreifen, denn es geht hier nicht um Gebietseroberungen. Es geht hier nicht um Territorien, sondern es geht um die Frage: Diktatur oder Freiheit? Und wenn du ein Imperium hast, an dessen Grenzen Freiheit herrscht, und du selber hast eine Diktatur, dann bedroht dich diese Freiheit, weil da dieser Bazillus immer wieder auf dein Imperium überspringen könnte. Und Putin als KGB-Offizier, als Sowjetmensch ist das sozusagen noch ins Fleisch eingeschrieben, dass das sowjetische Imperium nicht zuerst im Zentrum unterging, sondern an seinen Rändern. In Polen zum Beispiel, weil dort der Freiheitsbazillus nicht mehr zu beherrschen war. Und genau das will er versuchen einzudämmen, und deshalb ist er der Feind Europas.
Sollte Deutschland die Wehrpflicht wieder einführen?
Da habe ich keine Ahnung von. Ich glaube aber nicht, dass das das Problem ist. Wir haben andere Länder auf der Welt ohne Wehrpflicht. Schauen Sie in die USA, schauen Sie in andere Länder. Wehrpflicht ja oder nein? Ich würde eher eine Debatte führen wollen über einen Sozialen Dienst. Ich finde das vernünftig, wenn junge Menschen nach der Schule ein Jahr in der Gesellschaft sind, volle Arbeit machen, um auch andere Ecken der Gesellschaft kennenzulernen. Aber Wehrpflicht ist nicht das Grundproblem, wenn es um Verteidigungsbereitschaft geht. Es gibt genug Leute, die in der Armee dienen wollen. Im übrigen: Selbst wenn wir morgen die Wehrpflicht wieder einführen würden, die wir abgeschafft haben – ich war auch dafür -, dann würde man Jahre brauchen, um die Strukturen wieder herzustellen, um diese Wehrpflicht überhaupt wieder mit Leben erfüllen zu können, weil diese Strukturen auch gar nicht mehr existieren.
Letzte Frage: Sollte sich zumindest auf Ebene der Bundesländer die CDU auch für eine Zusammenarbeit mit der Linkspartei öffnen?
Ich habe ein, zwei Tage nach der Bundestagswahl ein Statement abgegeben, was dann durch die Medien ging, dass ich es in Ordnung finde, dass die Linkspartei solchen Erfolg hatte, weil das ein Zeichen der verfehlten Politik der anderen ist, weil sie sich eben auch auf wichtige sozialpolitische Punkte orientierten. Das fand ich gut. Insofern war das gerechtfertigt. Ich bin kein Freund dieser Partei. ich bin immer wieder ein scharfer Kritiker dieser Partei und habe aber gerade gestern auch gepostet, was eine große Verbreitung fand in den sozialen Medien, dass nach diesem Desaster, was Merz bei der Kanzlerwahl im ersten Wahlgang erlebt hat und nachdem die Linkspartei dann signalisiert hat, sie sind für die Veränderung der Geschäftsordnung, dass es nun endgültig vorbei sein muss mit dem Unvereinbarkeitsbeschluss, der im übrigen ja wegen Sahra Wagenknecht erfolgt ist. Und ich habe auch damals schon gesagt, als Wagenknecht aus der Linken ausgetreten ist: Jetzt ist es aber Zeit, diesen Unvereinbarkeitsbeschluss mit der Linkspartei aufzuheben, auch wenn ich nach wie vor diese Partei ablehne, während man aber einen Unvereinbarkeitsbeschluss mit dem BSW treffen müsste, denn das ist die systemfeindliche Partei. Und dazu ist es nicht gekommen, weil man sie in Thüringen brauchte, was ich für einen Skandal halte. Ich habe ein gemeinsames Buch mit Bodo Ramelow geschrieben, das im August erscheint und das eben auch zeigt, dass ich der Meinung bin: Das sind DemokratInnen in dieser Partei, und unter Demokraten muss man miteinander reden, selbst wenn man in vielen Punkten unterschiedlicher Meinung ist. Aber ich unterstelle einem Mann wie Bodo Ramelow, dass er nur das Beste für unsere Gesellschaft will, auch wenn ich andere Dinge wichtiger finde.
Wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Das Interview führten Juyeon Han und Thomas Claer. Zu Teil 1 des Gesprächs geht es hier.
Aktuelle Buchempfehlung:
Ilko-Sascha Kowalczuk – Freiheitsschock. Eine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute, Verlag C.H. Beck, 2024, 22,00 EUR, ISBN: 978-3-406-82213-1 (hier von uns rezensiert)
Am 21.8.2025 erscheint:
Ilko-Sascha Kowalczuk und Bodo Ramelow – Die neue Mauer. Ein Gespräch über den Osten, Verlag C.H. Beck, 2025, 23,00 EUR, ISBN-10: 3406838316