Justament-Klassiker: Pinars Tagebuch, September 2007
Aus dem Tagebuch einer Rechtsreferendarin
Liebes Tagebuch,
nun stecke ich mitten in meiner Strafstation. Meine Güte, wie hatte ich mich auf diese Station gefreut. Endlich darf ich eine Robe tragen, auch wenn schwarz nicht unbedingt meine Farbe ist, sehe ich darin irgendwie erhaben aus. Selbstverständlich ist es nicht nur die Freude über die schicke Robe, wir Referendare tragen endlich mehr Verantwortung. Wir dürfen, wenn auch in einem eingeschränkten Rahmen, eigenständige Entscheidungen treffen. Darauf hatten sich alle am meisten gefreut. Tja, solch ein Schwert ist leider immer zweischneidig. Ich habe viele schlaflose Nächte vor und nach Verhandlungen verbracht, weil ich ständig viel zu viel Mitleid mit den Tätern habe. Dies hat bei mir dazu geführt, dass ich oft versuche, die von den Staatsanwälten gemachten Strafvorschläge immer so gut es geht herunter zu drücken. Umso mehr verwundern mich meine Kollegen und Kolleginnen. Die sind so richtig auf den Machttrip gekommen und genießen ihre Machtposition in vollen Zügen. Ja, sie maßen sich an, die von den Staatsanwälten vorgeschlagenen Strafrahmen einfach zu verdoppeln, weil sie diese für viel zu lasch halten. Plötzlich ist es total gefragt, sich als harten Brocken und toughen Staatsanwalt zu präsentieren, egal auf wessen Kosten. Skrupel kennen sie nicht, denn sie handeln ja schließlich für den Rechtsstaat. Sie sehen es als eine Art von Sport an. Wer die meisten Verurteilungen und die höchsten Strafrahmen hat, gehört zu den Gewinnern. Die einzelnen Schicksale, die Hintergründe der Tat sind ohne Belang. „Pech gehabt, wären sie nicht so blöd gewesen und hätten sich nicht erwischen lassen“, habe ich schon oft zu hören bekommen, wenn ich versucht hatte zu erklären, dass manche Menschen in Notsituationen nun mal falsch reagieren. Auch wenn es vielleicht ein wenig überzogen ist, muss ich ständig an den Film „Das Experiment“ denken…
Als ich eine gute Kollegin von mir fragte, wie ihr Sitzungstag verlaufen ist, bekam ich die Antwort: „Schlecht, ich hatte drei Einstellungen und drei Freisprüche. Keine einzige Verurteilung.“
Ich hingegen erklärte ihr, wie schlimm mein Tag war, meinetwegen musste jemand für elf Monate ins Gefängnis. Das konnte sie leider überhaupt nicht verstehen, so eine hohe Strafe die ich da rausgeschlagen hatte, wäre doch schließlich ein Riesenerfolg. Gut, dass ich ihr nicht erzählt hatte, dass ich bereits während der Verhandlung mit den Tränen wegen dem traurigen Schicksal des drogenabhängigen Angeklagten gekämpft habe und die ganze Rückfahrt lang nach Hause im Auto geweint habe.
Eine ziemlich verzerrte Welt, wenn man einen Freispruch oder eine Verfahrenseinstellung als Misserfolg ansieht. Noch trauriger macht es mich, dass mir ein Stück von meinem Idealismus genommen wurde. Meine Kollegen und Kolleginnen sehe ich auch in einem anderen Licht, in keinem guten Licht und komme zu der Überzeugung, dass Macht niemandem gut tut.
Deine Pinar