Aus dem Tagebuch eines Jurastudenten
Liebes Tagebuch!
Olympiade 2012 in London. Die Stunde der Sieger. Nach jedem Finale steigen sie auf das Treppchen und lächeln in ein ausverkauftes Stadion, in dem sie frenetisch bejubelt werden. Für den Sportler geht ein Traum in Erfüllung.
Irgendwo in Deutschland 2012. Ein Student holt die Post. Öffnet hastig den einen Brief. Sein Magen möchte sich umdrehen. Alleine steht er in seiner Küche, die Spüle lebt seit langem in ihren eigenen Dünsten, entfernt knattert ein Presslufthammer. Der Student hat sein erstes Staatsexamen bestanden.
Liebes Tagebuch, so endet etwa alle vier Jahre eine Olympiade auf der einen und eine Examensvorbereitung auf der anderen Seite. Dabei sind die Vorbereitungen sehr ähnlich.
Bei uns Examenskandidaten geht es gleich zu Anfang in die heiße Phase des Wettkampfes. Mit vielen Anderen befinden wir uns plötzlich auf einem einjährigen Marathonlauf ohne Wasser- und Obststation. Um nicht völlig ins Schwimmen zu geraten, setzen wir uns mit ein paar Kommilitonen in ein Kanu und paddeln mit den Händen was das Zeug hält. Auf den letzten Metern ist schließlich jeder für sich. Es gilt nur noch über die Weltrekordmarke von 9 Punkten zu springen. Konzentriert formen wir unser Wissen zu einem Sprungstab und kleben unsere Hände daran fest. Uns stehen zwei Sprünge zur Verfügung.
Bei der Olympiade sieht es zum Vergleich so aus: Ein Marathon ist nach ein paar Stunden vorbei, die Kanuten haben Paddel und ein Hochspringer kann für jeden kleinen Zentimeter, den er höher Springen will, dreimal anlaufen. Und in jeder Sportart tritt ein anderer Sportler an. Dazu kommt, dass jeder Sportler neben sich seinen eigenen Trainer und Arzt stehen hat, die bereit sind alles zu tun, was er braucht. Wir haben dagegen unqualifizierte und meist trinkfreudige Freunde zur Seite.
Ich will nicht sagen, dass die Leistung eines Olympioniken nichts wert ist. Ich freue mich für sie und respektiere ihre hervorragenden Leistungen. Es ist nur wichtig, dass unsere Gesellschaft sich verdeutlicht, dass sich deutschlandweit viele junge Menschen im Staatsexamen einer der schwersten Prüfungen stellen, die Universitäten anbieten. Und was sie dafür tun ist, wie beschrieben, olympisch.
Sowohl bei den Wettkämpfen, als auch im Staatsexamen sind die Startpositionen der Teilnehmer dabei höchst unterschiedlich. Einer leistet Pionierarbeit, indem er als erster seines Landes antritt oder als erster seiner Familie ein Studium abschließt. Der Nächste entstammt einem guten Sportverband oder wird durch eine Stiftung gefördert. Wieder ein anderer – und damit gehört er zu der größten Gruppe – wird ganz normal im Mittelfeld starten.
Um seine Bemühungen zu belohnen, ist ein Platz auf dem Treppchen oder ein neun Punkte Staatsexamen sicherlich erstrebenswert. Was aber wirklich zählt, ist es bis Olympia oder bis zum Staatsexamen geschafft und dann seine bestmögliche Leistung abgeliefert zu haben. Unabhängig vom Ergebnis, läutet dann die Stunde des wahren Siegers!
Dein Alex