Recht philosophisch: Eine kleine Geschichte der Hermeneutik
Jochen Barte
Eine Katze im Sinne des Gesetzes ist auch ein Hund. Diese scherzhafte Bemerkung wird von Juristen nicht selten dann gebraucht, wenn sich Kommilitonen anderer Fachrichtungen oder auch Laien nach den Einzelheiten der juristischen Auslegungspraxis erkundigen – mit eher zweifelhaftem Erfolg. Die Pointe ist sicher, der Nichtjurist in aller Regel aber nun endgültig verwirrt. Sollte er vorher noch geglaubt haben, dass Jura etwas mit glasklarer Logik zu tun hat, so wird er von nun an die Juristerei den obskuren Geheimwissenschaften zurechnen. Und dem Juristen? Dem ist’s in der Regel egal. Hat er sich unvorsichtigerweise als solcher zu erkennen gegeben, dann wird ihm in erster Linie daran gelegen sein, nicht weiter mit „dummen“ Fragen belästigt zu werden, denn jeder Jurist weiß, was es heißt, sich beispielsweise auf einer Gartenparty beruflich zu outen. Den Rest des Abends wird er mit der Beantwortung der Rechtsfragen der Partygäste verbringen. Der Satz mit der Katze, die auch ein Hund sein kann, ist vor diesem Hintergrund eine Allzweckwaffe. Er amüsiert, schafft Verwirrung, kann aber, sollte die andere Seite immer noch interessiert sein, auch rechtsphilosophisch unterlegt werden. Denn er weist sozusagen auf die „letzten Gründe“ der juristischen Logik zurück: Aufgrund welcher Prämissen kommen juristische Schlussfolgerungen zustande und wie sind diese ihrerseits zu begründen? Fragen mit denen Juristen schon ganz früh im Studium umgehen lernen müssen, wollen sie praktische Lösungen für Bereiche finden, die nicht eindeutig im Gesetz geregelt sind. Das Handwerkszeug dazu liefert die Hermeneutik, die Lehre von der Auslegung und dem Verstehen von Texten. Dies erfolgt bei komplizierten, mehrdeutigen Texten schrittweise, zirkulär. Allgemein werden bei Gesetzestexten vier verschiedene Auslegungsweisen unterschieden: die philologische (Wortsinn), die systematische, die historische und die teleologische Auslegung (Zweck). So weit so gut. Und ein nettes Apercu im Staatsexamen, was sicher gut ankommt, wenn man’s irgendwie plausibel unterbringen kann. Aber Vorsicht. Wenn ich an meinen ehemaligen schweizer Zivilrechtsprofessor zurückdenke, würde der wohl bei Letzterem kritisch die Stirn runzeln und nachfragen: Wer hat’s erfunden? Und ich würde ihm gerade noch antworten können: Wir, die Deutschen, oder noch genauer: Karl Larenz. Ich stelle mir sodann vor, er nickte zustimmend, was Professoren und besonders Schweizer schon aus Prinzip so gut wie niemals tun. Aber natürlich würde ihm so eine banale Antwort nicht reichen. Er würde weiter fragen: Was hat Larenz noch erfunden? Hat er auch die Hermeneutik erfunden? Etwa das BGB? Worüber hat der Mann promoviert? Auf einen Schlag wäre ich mittendrin in einem hermeneutischen Zirkel, der mich zu verschlingen drohte. Ich würde mich geschlagen geben. Meine vorlaute Bemerkung bedauern und ihn bitten, mir sein Schweizer Taschenmesser zu leihen, um den gordischen Knoten der hermeneutischen Problemstellungen wenigstens teilweise nach und nach durchtrennen zu dürfen. Dann wäre ich allerdings nicht so naiv bei Larenz anzufangen, sondern bei Friedrich Schleiermacher, denn der hat sie tatsächlich erfunden, ober besser gesagt begründet: die Hermeneutik als Wissenschaft. Das war um 1800 – philosophiegeschichtlich zur Zeit des deutschen Idealismus. Zwar gab es die juristische Hermeneutik als hermeneutica profana schon vorher, um mir hier die Zwischenrufe latinophiler Experten zu ersparen, aber Schleiermachers große Leistung bestand darin, die einzelnen Spezialhermeneutiken zu einer Kunst des Verstehens zusammenzuführen. Dieses beinhaltete für ihn ein grammatisches und ein psychologisches Moment. Psychologisch deshalb, weil für Schleiermacher die Einfühlung in den individuellen Geist des Autors unabdingbar war. Im 20. Jahrhundert geriet die Hermeneutik dann vor dem Hintergrund der modernen Naturwissenschaften in die Defensive. Seither sind vielfach Versuche zu ihrer Rettung unternommen worden, beispielsweise von Dilthey. Heidegger und Gadamer waren gleichfalls bemüht. Allerdings ist der todkranke Patient bisher noch nicht wieder zu vollem Leben erweckt worden. Im juristischen Bereich lagen die Dinge dagegen einfacher. Hier konnte die Hermeneutik als Hilfswissenschaft wie einst überwintern und mit Larenz spannt sich der Bogen zurück zum deutschen Idealismus, zu Kant, Fichte, Schleiermacher und Hegel. Das Thema seiner Dissertationsschrift von 1926 lautete: Hegels Zurechnungslehre und der Begriff der objektiven Zurechnung. Larenz setzte im Bereich der Methodenlehre Maßstäbe. Sicher, das BGB hat er nicht erfunden und er war überzeugter Nationalsozialist, aber jeder Student wird an ihn denken, wenn die tausendste Abwandlung des Bananenschalenfalls plötzlich im Examen vor ihm auftaucht und hoffen, dass ihm –für ein paar Bonuspunkte mehr – noch die dogmatische Herleitung der Anspruchsbegründung für den Dritten einfällt: § 328 BGB analog, wie es der Altmeister des Schuldrechts himself gemacht hat: Vertrag mit Schutzwirkung zu Gunsten Dritter. Da war noch was, was nicht im Gesetz steht – und inständig beten, nicht auszurutschen.