Aus dem Tagebuch eines Jurastudenten
Liebes Tagebuch,
heute Morgen habe ich auf dem Weg in die Bibliothek darüber nachgedacht, wie der Schaden in Klausuren geprüft wird. Mit den Gedanken kam ich aber nicht weit, denn ich stieß mit einer Person zusammen. „Passen sie doch auf!“, brüllte ich und schaute in das entsetzte Gesicht von einer Freundin. Sie duckte sich weg, als müsste sie sich im Urwald vor einem bissigen Tiger retten. Ich entschuldigte mich sofort bei ihr. Als sie sich wieder gefasst hatte, fragte sie mich, ob es mir gut gehe. Ich hätte so einen Tunnelblick. Natürlich sagte ich ja, ich müsste gerade nur viel lernen. Da wir uns lange nicht gesehen hatten, verabredeten wir uns zum Kaffeetrinken. Wir kannten uns vom Studienbeginn an und hatten immer gemeinsam etwas unternommen, obwohl sie zu Psychologie wechselte.
Bevor ich zum Kaffeetrinken ging, baute ich am Platz in der Bibliothek meinen Laptop ab. Dabei grübelte ich über die Frage nach, ob bei der Prüfung von § 812 BGB der Vertrag als Rechtsgrund durch den Rücktritt wirklich entfallen kann. „Ist doch egal, du musst los!“, dachte ich und zog den Stecker aus der Dose. In diesem Augenblick reckten ein affirmativer Papagei, eine schlaue Schlange und ein dummes Faultier ihre Hälse und guckten mich an, als hätte der Tiger von heute Morgen soeben ins Trinkwasser gepinkelt. Der Stecker entpuppte sich nicht als meiner, sondern als der der Steckerleiste an der alle Laptops des Abteils angeschlossen waren. Damit hatte ich zwei Vormittage harter ungespeicherter Arbeit zunichte gemacht. Nur das dumme Faultier meinte, dass ich mir keine Sorgen machen solle. Den Endgegner von Diabolo II hätte es schon häufiger besiegt.
In der Pause erzählte mir die Freundin, dass sie Studien über Studenten gelesen hatte, die ohne ärztlichen Attest Ritalin und andere Medikamente nehmen, um besser im Studium zu werden. Ich habe ihr gesagt, dass Jurastudenten so etwas mit ihrer hohen Moral nicht machen. Dabei überlegte ich, gegen welche Gesetze solche Studenten wohl verstoßen. Sie meinte nur, das sei doch unwichtig, ich solle bloß aufpassen, sonst würde ich vor lauter Bäumen den Urwald nicht mehr sehen.
Abends packte ich als letzter meine Sachen und ging durch die frische Abendluft nach Hause. Der Weg führte durch die lange Unterführung einer Autobahn. Am Ende sah ich das Licht der Straße. Das Licht kam aber von der Mopedlampe eines Kommilitonen. Und während er mich mit dem Moped zu Boden riss, wusste ich: Ich – ich habe keinen Tunnelblick.
Dein Alex