Recht cineastisch, Teil 15: „Before Midnight“ mit Julie Delpy und Ethan Hawke
Thomas Claer
Romantischer geht es nicht: Sie treffen sich in einem Zug! Der 23-jährige Amerikaner Jesse (Ethan Hawke) und die gleichaltrige Französin Celine (Julie Delpy) lernen sich als Rucksackreisende zwischen Budapest und Wien kennen, unterhalten sich angeregt und beschließen spontan, in Wien gemeinsam auszusteigen, um dort einen wunderbaren Tag und – wie sich aber erst viel später herausstellen wird – auch eine wunderbare Nacht miteinander zu verbringen. So beginnt „Before Sunrise“, der erste Film aus Richard Linklaters Trilogie der Before-Filme, deren dritten wir nun, 18 Jahre nach dem Erstling, erleben dürfen. Um es gleich vorweg zu sagen: Wer „Before Midnight“ begreifen will, sollte unbedingt zuerst die beiden Vorgänger „Before Sunrise“ (1995) und „Before Sunset“(2004) gesehen haben. Also bitte erst die zwei Euro Leihgebühr und drei Stunden Zeit zum DVD-Gucken investieren, und dann ab ins Kino!
Es war natürlich eine andere Zeit damals, 1994, als es mit Jesse, dem witzigen und charmanten Slacker, und Celine, dem anmutigen Wesen mit idealistisch-umweltbewegtem Weltbild, begann. Wer seinerzeit etwas auf sich hielt, war im Sommer mit dem Rucksack und einem Interrail-Ticket unterwegs. Junge Leute mit Rollkoffern hätte man damals vermutlich als peinlich empfunden. Jedenfalls flanieren Jesse und Celine durch die Wiener Schallplattenläden, Antik-Läden und Cafès und reden, reden, reden. Sie haben sich einfach eine Menge zu sagen. Doch da beide schon anderweitig verplant sind, ist nach einem Tag und einer Nacht Schluss. Sie verlieren sich aus den Augen (Facebook und dergleichen ist noch nicht erfunden), und begegnen sich erst neun Jahre später im nächsten Film wieder. Da ist Jesse, es sind auch im Leben der Filmfiguren neun Jahre vergangen, ein von der Kritik gefeierter Schriftsteller geworden, dessen Roman-Debüt Celine gelesen und sich darin wiedererkannt hat. Nach Jesses Lesung in Paris komm es zum Wiedersehen. Und wieder haben sich die beiden unendlich viel zu erzählen. Allerdings ist Jesse inzwischen anderweitig verheiratet und Vater eines Sohnes, Celine hingegen, die mittlerweile in einer großen Umweltorganisation arbeitet, von der Männerwelt enttäuscht worden. Als der zweite Film endet, läuft Jesse Gefahr, über seinem Gespräch mit Celine den Flieger zu seiner Familie in die Staaten zu verpassen.
Erst jetzt, nach – sowohl in der Filmhandlung als auch tatsächlich – neun weiteren Jahren, erfahren wir, dass es wirklich so gekommen ist. Jesse und Celine, inzwischen Anfang vierzig, sind doch noch ein Paar geworden und haben inzwischen sogar zwei gemeinsame Töchter in die Welt gesetzt. Doch das Leben als Patchwork-Familie gibt immer wieder Anlass zu erbitterten Auseinandersetzungen. Celine beschreibt ihr Dasein als Karriere-Frau in einer Umweltorganisation und Mutter zweier Kinder so: „Die einzige Zeit, die ich mal wirklich für mich selbst habe, ist die auf der Toilette. Ich assoziiere inzwischen schon Nachdenken mit dem Geruch von Scheiße.“ Jesse schiebt dagegen als freier Schriftsteller, der es auf mittlerweile drei Romane gebracht hat, eine deutlich ruhigere Kugel. Die so unterschiedlichen Existenzformen der beiden sorgen ebenso für Konfliktstoff wie die gelegentlichen kulturell bedingten Dissonanzen in der binationalen Partnerschaft. Erst der gemeinsame Urlaub in Griechenland, in dem der Film seine Protagonisten einen Tag lang begleitet (ein berühmter griechischer Schriftsteller hat Jesse in sein Gästehaus eingeladen), ermöglicht wieder eine Kommunikation zwischen beiden wie in alten Zeiten. Doch kaum haben sie endlich einmal Ruhe, um Sonne, Wind und Meer und überhaupt die mediterrane Süße des Lebens genießen zu können, fangen sie an zu streiten. Es macht etwas traurig mit anzusehen, wie der so vielfach erfahrene Liebeskiller Alltag auch bei diesem Traumpaar eine Menge der einstigen Magie absorbiert hat. Der Satz von Jesse, der Celine endgültig zur Weißglut bringt, lautet: „Wenn du nur einen Bruchteil der Energie, die du für deine ständigen Nörgeleien und Zickereien aufwendest, für sinnvollere Dinge nutzen würdest…“ Diskussionen dieser Art dürften wohl auch so manchem Zuschauer bekannt vorkommen… Andererseits deutet der Umstand, dass Jesse und Celine auch nach so vielen gemeinsamen Jahren noch so munter und ausgedehnt miteinander reden, eher auf eine weitere gemeinsame Zukunft der beiden hin. Wir warten gespannt auf eine etwaige Fortsetzung im Jahr 2022.
PS: Dass der Film von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien als „FSK: 6“ eingestuft wurde, obwohl Julie Delpy dort minutenlang mit entblößten Brüsten herumläuft und sich dem, allerdings durch heftigen Streit unterbrochenen, leidenschaftlichen Liebesspiel mit Jesse hingibt, geht natürlich im Zeitalter allgegenwärtiger Online-Pornographie völlig in Ordnung.
Before Midnight
USA 2013
Regie: Richard Linklater
Drehbuch: Richard Linklater, Julie Delpy, Ethan Hawke
109 Minuten, FSK: 6
Darsteller: July Delpy, Ethan Hawke u.v.a.