Recht cineastisch, Teil 16: Die andere Heimat von Edgar Reitz
Thomas Claer
Ahnenforschung hat mittlerweile Hochkonjunktur in Deutschland (Justament September 2012 berichtete). Und so dachte sich wohl auch der inzwischen über 80-jährige Filmemacher Edgar Reitz, der für sein Lebenswerk, die wunderbare dreißigteilige Filmreihe „Heimat“ (1982-2004), immer wieder verdientermaßen gefeiert wurde, hier ließe sich doch noch eins draufsetzen, indem man einfach mal anderthalb Jahrhunderte zurückgeht. „Die andere Heimat“, diesmal als vierstündiger Kinofilm konzipiert, spielt nun um 1840 in der Welt der Vorfahren der aus den früheren Heimat-Filmen bekannten Familie Simon im fiktiven Hunsrück-Dörfchen Schabbach. (Gedreht wurde in einem Ort namens Gehlweiler.) Edgar Reitz vermischt hier auf einprägsame Weise Erfundenes mit Biographischem aus dem Leben seiner Ahnen. Zugegeben, ein vierstündiger Kinofilm – das wirkt erst einmal abschreckend. Und man kann auch nicht behaupten, dass sich in ihm nun ständig etwas Aufregendes ereignen würde. Doch gerade diese – im besten Sinne des Wortes – Langatmigkeit des filmischen Erzählens, verbunden mit einer sehr subtilen Kameraführung und den radikal-ästhetischen Schwarzweiß-Bildern, gelegentlich und unvermittelt unterbrochen durch kurzzeitige Ausflüge ins Farbige, macht die Edgar Reitz-Filme so einzigartig. Und in der „Anderen Heimat“ kommt noch die weitgehend authentisch hergerichtete historische Dorfkulisse hinzu.
Der Zuschauer erfährt, in welch bitterer Armut die Menschen im ländlichen Raum – damals die große Mehrheit der Bevölkerung – zu jener Zeit leben. Da findet es wenig Verständnis beim Schmied Johann Simon, dass sein Sohn Jakob einer so seltsamen Tätigkeit wie Bücherlesen nachgeht. Immer wieder prügelt er Jakob und wirft sein Buch auf den Misthaufen. Vielleicht wird man ja wirklich vor allem dadurch zum Individualisten, dass man es eigentlich nicht sein darf, dass einen Eltern und Umfeld mit sehr klaren Erwartungen konfrontieren, denen man aber auf gar keinen Fall entsprechen möchte. Jakob träumt vom Auswandern nach Brasilien, verschlingt förmlich die entsprechenden Reiseberichte und lernt schließlich die Sprache der Indianer vom Amazonas. „So einen wie dich gibt es im ganzen Hunsrück nicht!“, sagt ihm, halb anerkennend, halb vorwurfsvoll, seine Freundin Jettchen. Auf berührende Weise erzählt der Film die sich zunächst anbahnende, dann verhinderte und schließlich sich doch noch auf überraschende Weise wenigstens für kurze Zeit erfüllende Liebesgeschichte zwischen Jakob und Jettchen. Stark!
Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht
Deutschland / Frankreich 2013
Regie: Edgar Reitz
Drehbuch: Edgar Reitz / Gert Heidenreich
230 Minuten
Darsteller: Jan Dieter Schneider, Antonia Bill, Maximilian Scheidt, Marita Breuer, Rüdiger Kriese, Philine Lembeck, Christoph Luser u.v.a.