„Schattenriss oder Die Kur in Bad Schönenborn“ von Wolfgang Bittner
Katharina Stosno
„Es sind die Schwingungen, dachte er, die Schwingungen, die von uns ausgehen und die wir empfangen. Alles, was wir tun, und sogar, was wir denken, kommt auf uns zurück.“ Ein ganz schön spiritueller Satz für einen Roman, der doch recht nüchtern beginnt: Bei Ludwig Mahler, Schriftsteller in fortgeschrittenem Alter, wird ein Gallenstein operativ entfernt. Infolgedessen erkrankt er an der Bauchspeicheldrüse und begibt sich zur vollständigen Genesung für einen Kuraufenthalt nach Bad Schönenborn.
Dort muss er zunächst lernen, sich auf das langsamere Tempo des Kurlebens einzulassen – vor allem, da er sich unter all den kranken und gebrechlichen Leuten fehl am Platz vorkommt. Durch seine Ausflüge in die nähere Umgebung des Kurhotels wird ihm bewusst, wie anders er schon immer gewesen ist und „dass er darunter litt, nicht so recht zur Menschenfamilie zu gehören, deren große Mehrheit Vorlieben wie auch Abneigungen pflegte, die er nicht zu teilen, oftmals nicht einmal zu begreifen vermochte.“ Mahler ist einer der Menschen, die sich gerne aufregen und viel an der Welt zu verbessern hätten. Mit dem kritischen Blick, den er auf die moderne Gesellschaft wirft, vermag er allerdings nicht sich selbst und sein Leben zu betrachten. Nur vereinzelt flackern selbstkritische Gedanken auf. „Fröstelnd beobachtete er die vorüberbummelnden Menschen. War es nicht eine Anmaßung, sich über sie zu erheben? Sollten sie doch kaufen, was sie wollten. Mit welchem Recht urteilte er über sie?“ Nicht nur an dieser Stelle merkt man, dass die Geschichte ein Jurist geschrieben haben muss.
Und so handelt es sich bei der Frau, in die sich Mahler schließlich verliebt, und die er zunächst nur „ die Zigeunerin“ nennt, um eine Juristin aus der Schweiz. Francoise Dubois stammt aus Lausanne, hat längere Zeit in München gelebt und sich nach einer gescheiterten Ehe in Zürich als Anwältin niedergelassen. Auf Kur befindet sie sich aufgrund eines Magengeschwürs, von dem „sie nicht weiß, wie sie es bekommen hat.“ Die fehlende Selbstreflexion ist nicht das Einzige, was sie mit Ludwig Mahler verbindet. Wie auch er liebt sie das Stromern durch die Natur und so kommen sich die beiden auf gemeinsamen Ausflügen näher.
Die Gegenwart dieser exotischen Frau und die Gespräche mit ihr und ein paar anderen Kurgästen lassen Mahler seine Gebrechen vergessen und rücken den Fokus auf sein Wissen und seine Erfolge als Schriftsteller. Er blüht auf, als er um Rat und nach dem Geheimnis guter Literatur gefragt wird.
Die Gedanken an sein Zuhause und seine Ehefrau Brigitte verblassen immer mehr, vor allem hinter dem aufregenden Bild, das Francoise von sich zeichnet. In diesem Punkt ist Mahler dann doch wie ein Mensch unter vielen: Er begeht den typischen Fehler und verwechselt den Zauber des Augenblicks mit beständiger, tiefer gehender Liebe. Als er zwischen zwei Frauen stehend von der Geliebten zu einer Entscheidung gedrängt wird, sträubt er sich und mag kein Urteil fällen. Erst, als Mahler die Liebe zu seiner Frau Brigitte durch einen anderen Mann bedroht sieht, der ausgerechnet noch sein bester Freund ist, merkt er, was ihm der sichere Hafen der Ehe gegenüber dem Meer der Gefühle zu Francoise bedeutet. Zu spät?
Wolfgang Bittner bedient in „Schattenriss“ so einige Klischees – und doch habe ich mich während der gesamten Handlung nicht gelangweilt. Im Gegenteil: Ich habe die lange Weile des Lesens sehr genossen und fühlte mich von der Sprache und dem Lesefluss wohlig warm umschlungen. Nun kann ich auch die Frage beantworten: Was ist gute Literatur? Sie ist eine Kur, fürs Herz und für die Seele.
Wolfgang Bittner
Schattenriss oder Die Kur in Bad Schönenborn. Roman
VATZ Verlag 2011
240 Seiten, 18,90 Euro
ISBN-10: 3940884480