Der neue Berliner Wohnmarktreport liefert wieder brisantes Zahlenmaterial
Thomas Claer
„Weiß jemand von euch, wo Zehlendorf liegt? War schon mal jemand von euch in Zehlendorf?“, fragt der Lehrer seine Neuköllner Schulklasse in Detlev Bucks grandiosem Film „Knallhart“ aus dem Jahr 2006, als ein neuer Schüler aus dem großbürgerlichen Zehlendorf im Berliner Südwesten die Klasse einer offenkundigen „Problemschule“ im damaligen „Problembezirk“ Nord-Neukölln betreten hat. Fast alle sind damit überfragt, nur einer weiß Bescheid: „Zehlendorf? Reiche Arschlochgegend!“, klärt er seine Mitschüler auf. Zu jener Zeit, die noch nicht einmal ein Jahrzehnt zurückliegt, waren das reiche Zehlendorf und das arme Migrantenviertel Neukölln annähernd die größten Gegensätze in Berlin. Bei den von den Vermietern verlangten Angebots-Kaltmieten auf dem Wohnungsmarkt lag Zehlendorf gleich hinter dem neureichen Trendbezirk Mitte an der Spitze der Berliner Alt-Bezirke. (Alt-Bezirke heißt: Man legt die 23 alten Bezirke von vor der Gebietsreform 2001 zugrunde und nicht die zwölf neuen Bezirke, die durch Zusammenlegungen von sozial z.T. sehr heterogenen Gebieten entstanden sind, was seitdem oft zu irreführenden Verzerrungen in den Statistiken geführt hat.) Neukölln lag damals – so gerechnet – knapp vor dem östlichen Plattenbaubezirk Marzahn (der fiktiven Heimat der mittlerweile zu Berühmtheit gelangten Komikerin Cindy) auf dem vorletzten Platz. Am Ende des Films „Knallhart“ ist der Protagonist (gespielt vom jungen David Kross) heilfroh, dass er das schreckliche Neukölln schnell wieder verlassen kann, da seine Mutter eine Wohnung im bürgerlichen Steglitz gefunden hat.
Inzwischen hat sich das Kräfteverhältnis auf dem Berliner Wohnungsmarkt nun aber, vorsichtig ausgedrückt, ein wenig verschoben:
Wohnkosten in Berliner Bezirken (Angebotskaltmiete pro qm 2014/2008) nach Alt-Bezirken gem. Wohnmarktreport Berlin / eigenen Berechnungen
1. Mitte (Alt) (12,05/9,54/+26,3%/alternativ/repräsentativ)
2. Kreuzberg (10,92/6,37/+59,2%/alternativ/lebendig)
3. Prenzlauer Berg (10,44/7,32/+39,1%/alternativ/neubürgerlich)
4. Friedrichshain (10,00/6,60/+51,5%/alternativ/lebendig)
5. Wilmersdorf (9,82/8,06/+21,8%/großbürgerlich/bürgerlich)
6. Charlottenburg (9,56/7,24/+32,1%/großbürgerlich/lebendig)
7. Schöneberg (9,44/7,24/+26,8%/bürgerlich/lebendig)
8. Tiergarten (9,40/6,33/+39,0%/gemischt/lebendig)
9. Zehlendorf (9,32/7,94/+13,6%/großbürgerlich/bürgerlich)
10. Neukölln* (8,24/5,23/+57,5%/alternativ/proletarisch)
11. Steglitz (8,24/6,45/+27,7%/bürgerlich/kleinbürgerlich)
12. Weißensee (8,09/5,65/+43,2%/bürgerlich)
13. Lichtenberg (8,00/5,50/+45,5%/proletarisch/kleinbürgerl.)
14. Wedding (7,79/5,26/+48,1%/proletarisch/lebendig)
15. Köpenick (7,78/6,11/+17,7%/bürgerlich/proletarisch)
16. Pankow (7,75/5,99/+29,4%/bürgerlich/lebendig)
17. Tempelhof (7,47/5,82/+28,3%/kleinbürgerlich/bürgerlich)
18. Treptow (7,34/5,47/+34,2%/proletarisch/lebendig)
19. Reinickendorf (7,15/5,76/+24,1%/kleinbürgerlich/bürgerlich)
20. Hohenschönhausen (7,00/5,96/+17,5%/proletarisch/gemischt)
21. Spandau (6,76/5,43/+24,5%/kleinbürgerlich/lebendig)
22. Hellersdorf (6,55/5,30/+23,6%/proletarisch/gemischt)
23. Marzahn (6,24/4,85/+28,7%/proletarisch/gemischt)
* Neukölln-Nord (9,18/5,08/+80,7%/alternativ/proletarisch)
Neukölln-Süd (7,03/5,41/+30,0%/kleinbürgerl./proletarisch)
Für Zehlendorf reicht es jetzt also nur noch zu einem guten Mittelplatz. Nun ist Zehlendorf zweifellos auch heute noch eine „reiche Arschlochgegend“. Die Solideren unter den dort ansässigen Vermögenden haben natürlich, um es James-Bond-haft auszudrücken, nicht gemietet, sondern gekauft. Und doch sagt es eine Menge über den dynamischen Wandel in Berlin aus, dass dieser Bezirk in den letzten sechs Jahren den prozentual niedrigsten Anstieg der Angebotskaltmieten – gerade einmal 13,6 Prozent – zu verzeichnen hatte. Nahezu alle Innenstadtbezirke sind mit Karacho an Zehlendorf vorbeigezogen, allen voran die heiß begehrten Szenelagen von Kreuzberg, Prenzlauer Berg und Friedrichshain mit Zuwächsen von bis zu 59,2 Prozent in diesem Zeitraum.
Und was macht Neukölln? Innerhalb weniger Jahre ist es zum ausgesprochenen „place to be“ geworden. Zuerst kamen nur ein paar versprengte Künstler, die sich in die billigen leer stehenden Läden einmieteten. Dann wurde es zum Geheimtipp für die feierwütige Jugend der Welt. Schließlich gab es eine regelrechte Invasion. Längst ist Neukölln bei den Mieten an Steglitz vorbei- und mit Zehlendorf nahezu gleichgezogen. Mit Zuwächsen bei den Angebots-Kaltmieten von 80,7 Prozent im Sechsjahreszeitraum schießt die nunmehrige Hipster-Gegend Neukölln-Nord dabei den Vogel ab. Unter den zehn Postleitzahlgebieten mit dem stärksten Mietanstieg seit 2008 befinden sich acht aus Nord-Neukölln. (Und nahezu alle 30 Postleitzahlgebiete mit dem stärksten Mietanstieg liegen in der Innenstadt.)
Gebiete mit dem stärksten Anstieg der Angebotskaltmieten im Sechsjahreszeitraum
1. 12049 Hermannstraße West /Reuterkiez (Neukölln/10,00/5,10/+96,1%)
2. 12045 Sonnenallee Nord (Neukölln/10,00/5,20/+92,3%)
3. 12043 Rathaus Neukölln (Neukölln/9,54/5,00/+90,8%)
4. 12053 Rollbergstraße (Neukölln/9,32/4,90/+90,2%)
5. 10999 Görlitzer Park (Kreuzberg/11,71/6,20/+88,9%)
6. 12047 Maybachufer („Kreuzkölln“) (Neukölln/10,37/5,50/+88,5%)
7. 10969 Prinzenstraße (Kreuzberg/10,90/6,00/+81,7%)
8. 12059 Weigandufer (Neukölln/9,00/5,00/+80,0%)
9. 12055 Richardplatz (Neukölln/9,00/5,00/+80,0%)
10. 12051 Hermannstraße Süd (Neukölln/8,94/5,00/+78,8%)
11. 10627 Westliche Kantstr./ Bismarckstr. (Charlottenb./11,79/6,60/+78,6%)
12. 10965 Mehringdamm / Bergmannstraße (Kreuzberg/11,21/6,30/+77,9%)
13. 10997 Wrangelstraße / Paul-Lincke-Ufer (Kreuzberg/11,15/6,30/+77,0%)
14. 10559 Stephanstraße (Moabit/Tiergarten/9,22/5,30/+74,0%)
15. 10967 Graefestraße (Kreuzberg/10,50/6,30/+66,7%)
16. 10551 Birkenstraße (Moabit/Tiergarten/8,96/5,40/+65,9%)
17. 13359 Soldiner Straße (Wedding/7,71/4,70/+64,0%)
18. 10961 Gneisenaustraße (Kreuzberg/11,00/6,80/+61,8%)
19. 13357 Gesundbrunnen (Wedding/8,25/5,10/+61,7%)
20. 10827 Crellestraße/Kleistpark (Schöneberg/9,51/5,90/+61,2%)
21. 12526 Bohnsdorf/ Schönefeld (Köpenick/8,50/5,30/+60,4%)
22. 10553 Beusselstraße (Moabit/Tiergarten/8,15/5,10/+59,8%)
23. 10555 Alt-Moabit-West (Tiergarten/9,42/5,90/+59,7%)
24. 13351 Rehberge (Wedding/7,98/5,00/+59,6%)
25. 10823 Alt-Schöneberg /Eisenacher Str. (Schöneberg/10,00/6,30/+58,7%)
26. 10783 Bülowbogen/Bülowstraße (Schöneberg/8,76/5,60/+56,4%)
27. 10247 Samariterstraße (Friedrichshain/10,00/6,40/+56,2%)
28. 10365 Siegfriedstraße (Lichtenberg/8,04/5,20/+54,6%)
29. 10439 Arnimplatz (Prenzlauer Berg/10,00/6,50/+53,8%)
30. 12435 Treptower Park (Treptow/8,75/5,70/+53,6%)
Aber was ist denn nun aus der ausufernden Kriminalität in Neukölln geworden, den Problemschulen und den Jugendbanden? Das alles kann natürlich nicht von heute auf morgen völlig verschwinden, aber es wird angesichts des rasanten sozialen Wandels massiv zurückgedrängt. Jedenfalls redet davon heute kaum noch jemand – außer vielleicht auf PEGIDA-Demonstrationen und AfD-Parteitagen. Dort wurde in letzter Zeit oft gewarnt, es dürfe nicht zugelassen werden, dass sich „Zustände wie in Berlin-Neukölln“ in ganz Deutschland ausbreiten, womöglich noch in Dresden. Hier drängt sich allerdings der Verdacht auf, dass diese Leute in ihrer Argumentation nicht ganz auf dem neuesten Stand sind. Vielleicht sollten sie neben Sarrazin und Buschkowsky auch einfach mal den Berliner Wohnmarktreport lesen? Laut Wikipedia ist die zurückgetretene PEGIDA-Oberaktivistin Kathrin Oertel, die nun eine Bürgerbewegung „rechts von der CDU“ gegründet hat, ja als „freiberufliche Wirtschaftsberaterin und Immobiliensachverständige“ tätig. Doch zeugt es gewiss nicht von viel Sachverstand, generell einen Verfall der Immobilienpreise aufgrund von immer neuen Flüchtlingsheimen zu befürchten, wie es ja häufig aus der Ecke dieser „besorgten Bürger“ zu hören war. Für Berlin jedenfalls gilt: Wenn etwas die Explosion der Mieten und Immobilienpreise aufhalten kann, dann bestimmt nicht ein paar zusätzliche Flüchtlingsheime, sondern vielmehr die Aufmärsche der rechten Aktivisten, die eine durchaus abschreckende Wirkung auf internationale Investoren haben. Man kann nur hoffen, dass das die Gentrifizierungsgegner nicht mitbekommen…
Top 25 aller Postleitzahlbezirke nach Höhe der Angebotskaltmiete pro qm 2014/2008
1. 10117 Unter den Linden (Mitte/12,90/12,60/+2,4%)
2. 10178 Hackescher Markt/ Alexanderplatz (Mitte/12,50/10,30/+21,4%)
3. 10119 Rosenthaler Platz (Mitte/12,50/9,00/+38,9%)
4. 10627 Westliche Kantstr./ Bismarckstr. (Charlottenburg/11,79/6,60/+78,6%)
5. 10999 Görlitzer Park (Kreuzberg/11,71/6,20/+88,9%)
6. 10435 Kollwitzplatz (Prenzlauer Berg/11,66/8,60/+35,6%)
7. 10115 Chausseestraße (Mitte/11,53/8,40/+37,3%)
8. 10785 Potsdamer Platz (Tiergarten/11,25/7,80/+44,2%)
9. 10965 Mehringdamm / Bergmannstraße (Kreuzberg/11,21/6,30/+77,9%)
10. 10997 Wrangelstraße / Paul-Lincke-Ufer (Kreuzberg/11,15/6,30/+77,0%)
11. 10707 Olivaer Platz / Kurfürstendamm (Wilmersdorf/11,14/8,40/+32,6%)
12. 14195 Dahlem (Zehlendorf/11,11/9,40/+18,2%)
13. 10623 Savignyplatz (Charlottenburg/11,01/9,00/+22,4%)
14. 10405 Prenzlauer Allee (Prenzlauer Berg/11,00/7,80/+41,0%)
15. 10961 Gneisenaustraße (Kreuzberg/11,00/6,80/+61,8%)
16. 10629 Sybelstraße/ Kurfürstendamm (Charlottenburg/10,95/9,00/+21,7%)
17. 10969 Prinzenstraße (Kreuzberg/10,90/6,00/+81,7%)
18. 10719 Ludwigkirchplatz/ Kurfürstendamm (Wilmersdorf/10,91/9,70/+12,5%)
19. 10179 Jannowitzbrücke (Mitte/10,84/7,40/+46,5%)
20. 10437 Helmholtzplatz (Prenzlauer Berg/10,70/7,70/+39,0%)
21. 14193 Grunewald (Wilmersdorf/10,63/10,60/+0,3%)
22 .10967 Graefestraße (Kreuzberg/10,50/6,30/+66,7%)
23. 12047 Maybachufer („Kreuzkölln“) (Neukölln/10,37/5,50/+88,5%)
24. 10777 Viktoria-Luise-Platz (Schöneberg/10,37/7,60/+36,4%)
25. 10789 Tauentzienstr. / Kurfürstendamm (Wilmersdorf/10,25/9,10/+12,6%)