NEU: Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen
Liebes Tagebuch,
um es gleich und ohne Umschweife einzugestehen: Meine juristischen Staatsexamen (oder wie manche auch sagen würden: Staatsexamina) liegen schon etwas länger zurück. 17 bzw. 14 Jahre, um genau zu sein. Daran gibt es auch nichts zu relativieren oder gar zu beschönigen. Wenn ich mir das ehrenwerte Amt des Justament-Tagebuchschreibers aber dennoch zutraue, dann deshalb, weil ich über ein gut bis sehr gut funktionierendes Gedächtnis verfüge. Allerdings nicht unbedingt auf den Examensstoff bezogen, womit ein Teil der Problematik bereits angesprochen wäre. Woran ich mich nämlich heute noch sehr genau erinnern kann, sind die vielfachen Leiden, die mir die Juristenausbildung damals bereitet hat. Und schlimmer noch: Deren Nachwirkungen machen sich bei mir noch immer stark bemerkbar. (Wenn das keine klassische Traumatisierung ist!) Aber wem außer dir, liebes Tagebuch, könnte ich all das schon anvertrauen? Wie gut, dass wir hier unter uns sind, und niemand sonst von meinen schwachen Momenten erfahren wird. Oder dass sie mir jedenfalls, juristisch gesprochen, keiner zuordnen kann. Es ist nämlich so: Ich träume oft davon, bis heute regelmäßig, dass ich noch das zweite Staatsexamen ablegen muss. Es ist immer der gleiche Traum: In ein paar Monaten ist der Termin, und ich weiß nichts, rein gar nichts von dem, was man im zweiten Examen alles wissen sollte. Komischerweise geht es in diesen Träumen aber nie ums erste Examen, immer nur ums zweite. Keine Ahnung, warum. Mir wird dann immer nach und nach bewusst, dass ich das zweite Staatsexamen einfach lange Zeit verdrängt habe. Dieses und jenes getan habe, obwohl ich doch eigentlich fürs Examen hätte lernen müssen. Und irgendwann habe ich dann diesen Termin vor Augen. Mein Gott, wie soll ich das denn schaffen? Mein juristischer Kenntnisstand im Traum entspricht ungefähr meinem heutigen in der Wirklichkeit. Es wird unabwendbar eine Katastrophe geben! Schweißgebadet wache ich auf. Und langsam steigt das wohlige Bewusstsein in mir auf, dass ich das zweite Examen gar nicht mehr ablegen muss, weil ich genau das vor 14 Jahren bereits getan habe. Ach, das Leben ist doch eigentlich ganz schön, so ohne Examensdruck. An solchen Tagen, an denen ich vom bevorstehenden Examen geträumt habe, das ich dann doch nicht bestehen muss, bin ich oft richtig gut drauf. Manchmal muss man sich einfach nur mal bewusst machen, wie relativ gut es einem geht. Schon das kann ungemein die Stimmung heben.
Dein Johannes