Recht cineastisch, Teil 23: „Victoria“ von Sebastian Schipper
Thomas Claer
Schon auf der Berlinale hat dieser Film für Furore gesorgt. Nun lässt sich „Victoria“, dieses atemlose und verwegene Filmexperiment, auch deutschlandweit in den Kinos bewundern. Wohl zum ersten Mal in der (Spiel-) Filmgeschichte wurde hier 140 Minuten lang alles von vorne bis hinten in einem Zug ohne einen einzigen Schnitt gedreht, womit sich Regisseur Sebastian Schipper ein mindestens ebensolches Denkmal gesetzt hat wie vor zwei Jahrzehnten sein dänischer Kollege Lars von Trier mit seinem damals ebenfalls aufsehenerregenden Konzept des „Dogma-Films“. Nur dass sich in Schippers Fall wohl nicht so leicht ein Nachahmer für diesen Wahnsinn finden wird…
Über die revolutionäre Form hinaus kann der Film aber auch erzähltechnisch überzeugen: Die junge Spanierin Victoria (hinreißend gespielt von Laia Costa) ist erst seit drei Monaten in Berlin und schlägt sich die Nacht in einem coolen Club irgendwo zwischen Mitte und Kreuzberg um die Ohren. Wie so viele andere junge Südeuropäer sieht sie keine Perspektive mehr in ihrer von Jugendarbeitslosigkeit und Hoffnungslosigkeit gezeichneten Heimat und hat sich in die allerorts gelobte Stadt an der Spree aufgemacht. Dort jobbt sie für vier Euro Stundenlohn in einem Café und fühlt sich, da sie noch nicht so recht Anschluss gefunden hat, zunächst einmal ziemlich einsam. Doch in jener Nacht vor dem besagten Club lernt sie endlich jemanden kennen – es sind aber genau die falschen Leute, nämlich Sonne (gespielt von Frederick Lau, dem Herr Lehmann aus „Neue Vahr Süd“) und seine Gang. Sie sind die Repräsentanten einer noch nicht vollständig weggentrifizierten kriminellen Unterschicht und werden auch gar nicht erst in den Club hineingelassen; der Türsteher kennt schon seine Pappenheimer… Die vier Mittzwanziger brechen Autos auf, begehen Ladendiebstähle, einer von ihnen hat schon eine Knastvergangenheit. All das kriegt Victoria, die sich den jungen Männern leichtsinnigerweise anschließt, erst nach und nach mit und will es auch eigentlich gar nicht wahrhaben, denn längst hat sie sich in Sonne verguckt, der seinerseits schon mächtig für sie entflammt ist. Fast ist es rührend, wie ritterlich sich diese zwielichtigen Typen gegenüber der erkennbar „aus gutem Hause“ stammenden Victoria verhalten. Doch dann sollen die vier, um eine alte Schuld zu begleichen, noch in dieser Nacht eine Bank ausrauben. Und so nimmt das Unheil seinen Lauf… Was für ein Film!
Victoria
Deutschland 2015
Regie: Sebastian Schipper
Drehbuch: Sebastian Schipper, Olivia Neergaard-Holm, Eike Schulz
140 Minuten, FSK: 12
Darsteller: Laia Costa, Frederick Lau, Franz Rogowski, Burak Yiğit, Max Mauff u.a.