Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen
Liebes Tagebuch,
wenn ich so zurückblicke, dann muss ich zugeben, dass mir schon viele peinliche Sachen im Leben passiert sind. Zum Beispiel als wir beim Kanufahren im Spreewald ins Wasser gefallen sind. Wir saßen zu dritt in einem Boot, und brachten das Kunststück fertig, uns alle drei gleichzeitig nach unseren beiden sportlichen Freunden umzudrehen, die mit ihrem Boot viel schneller waren als wir mit unserem und uns aus der Ferne etwas zuriefen. Durch die plötzliche Gewichtsverlagerung infolge unserer kollektiven Drehung kippte unser Boot zur Seite – und schon lagen wir drei im Wasser. Es war zwar nur einen halben Meter tief, doch, da es erst April war, noch ziemlich kalt. Ein älterer Anwohner rettete uns dann ganz spektakulär mit einer langen Ruderstange. Anschließend erzählte er uns, dass er zwar schon öfter Unfälle solcher Art von Touristen erlebt habe, doch habe es sich dabei ausnahmslos um Betrunkene gehandelt, die auf ihren Herrentagsausflügen zu tief ins Glas geschaut hatten. Dass drei offensichtlich völlig nüchterne junge Menschen so einfach ins Wasser fallen – das habe er noch nicht erlebt.
Noch viel schlimmer aber, weil diesmal ganz allein von mir selbst verschuldet, war mein Erlebnis in der Universitätsbibliothek. Es muss wohl im dritten Semester gewesen sein. Damals wohnte ich im Studentenwohnheim direkt neben der Uni. Die Öffnungszeiten der Bibliothek waren wirklich vorbildlich: Erst um 1 Uhr nachts wurden dort die Türen verschlossen – außer am Wochenende, da war bereits um 23 Uhr Feierabend. Und genau dieser Umstand wurde mir zum Verhängnis. Aus Gewohnheit saß ich an einem Samstag in den späten Abendstunden im SPIEGEL-Archiv, das mir viel unterhaltsamer erschien als alle Jura-Bücher, und muss dabei wohl die Zeit vergessen haben. Vielleicht hatte ich mich aber auch im Tag geirrt, so genau kann ich es heute nicht mehr sagen. Jedenfalls ging plötzlich um mich herum das Licht aus. Ich begriff nicht gleich, was los war, und brauchte einige Sekunden, bis mir klar wurde, dass man mich in meiner Leseecke übersehen und alle Türen bereits verschlossen hatte. So schnell ich konnte, stürmte ich die lange Treppe nach oben zum Ausgang, aber auch dort war es dunkel, und niemand war mehr da. Einen Moment lang dachte ich daran, laut zu schreien. Aber diesen Gedanken verwarf ich schnell wieder. Die gläsernen Tür- und Fensterscheiben in diesem Neubau machten einen sehr dicken und keineswegs schalldurchlässigen Eindruck. Auch ein kräftiges Dagegenschlagen schien mir wenig erfolgversprechend zu sein, zumal offenbar keine Menschenseele mehr in der Nähe war, die mich hätte hören können. So ein Mist aber auch! Es blieb aber immerhin noch der Alarmknopf. Wenn ich den gedrückt hätte, dann hätte mich bestimmt jemand gehört. Einige Zeit lang stand ich vor diesem roten Knopf und überlegte. Doch dann dachte ich mir: Wie peinlich wäre das denn, mit viel Trara aus diesem gläsernen Gefängnis befreit zu werden. Womöglich wäre dann die Feuerwehr angerückt, und dann käme auch noch die Haftungsfrage hinzu. Nein, ich konnte mich einfach nicht dazu durchringen, den Alarmknopf zu drücken. Stattdessen machte ich mich langsam mit dem Gedanken vertraut, die nächsten zehn Stunden wohl oder übel in der Bibliothek verbringen zu müssen, denn dies schien mir dann doch das deutlich geringere Übel zu sein.
Nun war es zwar um mich herum ziemlich finster, und ich scheute mich auch etwas davor, jetzt überall das Licht anzumachen, weil dann womöglich noch jemand die Polizei gerufen und ich dann als Bibliotheks-Einbrecher dagestanden hätte. (Wenn schon, dann hätte ich sofort, nachdem man mich eingeschlossen hatte, das Licht am Hauptschalter anschalten müssen, aber dieser Gedanke kam mir leider zu spät). Ich ging also in einen der fensterlosen Nebenräume, wo ich mir unauffällig Licht machen konnte. Hierhin konnte ich mir reichlich Lesestoff mitnehmen und mir eine schöne Lesenacht machen, so dachte ich. Doch war es schon recht unbequem, so auf dem Teppichboden zu sitzen, denn es gab dort keinerlei Sitzgelegenheit. Wenigstens von der Temperatur her war es ganz okay. Also versuchte ich, mich wieder etwas zu beruhigen und durch Buchlektüre abzulenken. Ein Roman wäre jetzt gut gewesen, aber so etwas gab es hier leider nicht, sondern nur Jura und Soziologie – und das SPIEGEL-Archiv. Aber im Dunkeln nochmal die Treppe runter, das wollte ich dann lieber doch nicht. Nach einiger Zeit begannen mich die Soziologiebücher, die ich mir aus einem der Regale in der Nähe gegriffen hatte, zu langweilen, und ich sah mich in diesem kleinen Kabuff von einem Nebenraum mal näher um. Und Volltreffer! Da stand doch tatsächlich hinter allerlei Gerümpel ein richtiger Fernseher. Ob es hier wohl Empfang geben würde? Nein, das wäre auch zu schön gewesen. Aber es gab unter dem Gerät einen Videorecorder – sogar mit einer VHS-Kassette drin. Dieses Video sah ich mir dann an. Es war ein Einführungsfilm über die Benutzung der Bibliothek. Hach, war das ein steifer und unfreiwillig komischer Film. Da erklärte doch tatsächlich der grauhaarige Typ, der meistens am Eingang saß, wie man sich ein Buch ausleiht…
Die Zeit wollte einfach nicht vergehen. Nach ein paar Stunden hatte ich einige Bücher über bildende Kunst entdeckt, die ich von der Systematik her niemals an diesem Ort vermutet hätte. Aber egal, was ich las, ich wurde einfach nicht müde. Tagsüber in den Jura-Vorlesungen musste ich oft schon nach wenigen Minuten gähnen, aber hier in der Bibliothek war ich auch noch nachts um vier putzmunter. Ich machte das Licht aus und versuchte mit aller Gewalt zu schlafen. Doch der harte Teppichboden war wirklich sehr unbequem, und eine Decke oder ein Kopfkissen wären auch nicht schlecht gewesen. Ich kann mich nicht daran erinnern, im eigentlichen Sinne geschlafen zu haben, aber irgendwann bemerkte ich, dass es draußen hell wurde. Na ein Glück, nur noch drei Stunden bis 9 Uhr! Ich muss diese letzten Stunden wohl in einer Art Dämmerzustand verbracht haben. Gegen halb neun entwickelte ich bereits einen konkreten Plan, wie ich die Bibliothek möglichst unauffällig wieder verlassen konnte. Denn gleich nach dem Türaufschließen dem Angestellten entgegenstürmen, das wäre natürlich zu auffällig gewesen. Ich musste zumindest abwarten, bis einige Frühaufsteher die Bibliotheksräume betreten hatten, und mich dann am besten den ersten von ihnen anschließen, die sie wieder verließen. Aber was tun, wenn so früh gar keiner kommt? Ich selbst war zu dieser frühen Uhrzeit noch nie im Leben in einer Bibliothek und bin es auch bis heute nicht gewesen.
Doch ich hatte Glück. Schon zehn Minuten nach der Bibliotheksöffnung kamen zwei oder drei ganz eifrige Studenten eingetrudelt, wenige Minuten später noch ein weiterer. Aus sicherer Entfernung sah ich, wie der grauhaarige Mann, der auch heute am Eingang saß, in irgendwelche Unterlagen vertieft war. Er blickte nicht einmal auf, während ich ruhig an ihm vorbei die Ausgangstür durchschritt. Als ich später meinen Freunden von meiner Nacht in der Bibliothek berichtete, wollte mir anfangs keiner glauben. Das sei doch gar nicht möglich, meinten sie. Es werde doch vor dem Abschließen sooo streng kontrolliert, ob sich noch irgendwo jemand versteckt habe. Später, nach meinem detaillierten Bericht, meinte einer von ihnen, das sei eine so verrückte Geschichte, dass ich sie doch unbedingt einmal aufschreiben sollte. Heute, zwanzig Jahre später, habe ich ihn beim Wort genommen…
Dein Johannes