Recht cineastisch, Teil 26: „Wild“ von Nicolette Krebitz
Thomas Claer
Zur Abwechslung mal eine Mädchenphantasie im Kino – auch nicht schlecht. Vielleicht mehr junge (und junggebliebene) Damen, als man denkt, träumen offenbar insgeheim von einem wilden, behaarten Wesen, das ihnen womöglich sogar das Menstruationsblut mit der Zunge aus… Aber halt, in diesem Moment kommt für Ania, die als IT-Spezialistin in einer Werbeagentur arbeitet, und in einer kleinen Zweiraumwohnung in der Plattenbauwüste von Halle-Neustadt lebt, das böse Erwachen. Denn sie hat ihr Objekt der Begierde, einen leibhaftigen Wolf, der in der Nähe eines Wäldchens unweit ihres Wohnhauses herumstreifte, zuerst betäubt und dann einfach mit nach Hause genommen. Dort eingesperrt in Anias verriegeltem Schlafzimmer, während Ania sich nur noch im anderen Zimmer aufhält, verrichtet das wilde Tier sein zu erwartendes Zerstörungswerk. Durch ein Loch in der Wand wirft Ania ihrem behaarten Kameraden regelmäßig riesige Fleischstücke zu. Und mit der Zeit wird der raue Geselle etwas zugänglicher.
Ja, er ist wieder da. Freund Isegrim, wie er bei Goethe hieß, ist nach anderthalb Jahrhunderte währender Abwesenheit in die deutschen Wälder zurückgekehrt, wo er noch in den Märchen der Brüder Grimm als großmutter- und geißleinfressendes Scheusal sein Unwesen trieb. (Und man hatte auch missliebigen Menschen angedichtet, bei Mondschein seines gleichen zu werden.) Nun also gehört er wieder zu unserem Alltag, ist eigentlich sehr menschenscheu, reißt gelegentlich mal ein Schaaf und beflügelt ansonsten die Phantasie junger Frauen wie Ania (Lilith Stangenberg) in „Wild“, dem neuen Film von Nicolette Krebitz. Der Film, an dem in erster Linie Frauen mitgewirkt haben, ist auf diffuse Weise feministisch, auf jeden Fall aber sehr mutig und herausfordernd.
Die – man muss wohl sagen – tragische Heldin Ania ist eine Art weiblicher Nerd (klar, sie ist Informatikerin), vielleicht nicht so hübsch, dass alle Jungs sich nach ihr umdrehen, aber doch attraktiv genug, um ganz eigene Reize zu entfalten, denen insbesondere Boris, ihr Chef in der Firma, bald erliegt. Jedoch ist Ania an ihren Mitmenschen nicht besonders interessiert, sondern, nun ja, wie gesagt nur am dem haarigen Gesellen aus dem Wald, dem sie am Ende, als ihr Vermieter sie wegen der völlig verwahrlosten Wohnung abgemahnt hat, in die Wildnis folgt und mit dem sie fauliges Wasser aus Pfützen schlürft. So lehren die Wünsche, um es mit Peter Sloterdijk zu sagen, durch ihr Wahrwerden das Fürchten. Ein sehenswerter Film.
Wild
Deutschland 2016
Regie: Nicolette Krebitz
Drehbuch: Nicolette Krebitz
Darsteller: Lilith Stangenberg, Georg Friedrich, Silke Bodenbender, Saskia Rosendahl u.v.a.