Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen
Liebes Tagebuch,
meine Mutter wusste schon frühzeitig sehr genau, wohin es mit mir später einmal gehen sollte: „Du wirst dein Leben lang früh aufstehen müssen. Gewöhn dich daran!“, sagte sie zu mir streng, wenn ich als Kind manchmal lange schlief, was ich schon damals gerne tat. Meine Antwort darauf war: „Das wollen wir doch erst mal sehen.“ Auch in späteren Jahren machte sie mir immer wieder Beine bzw. sie versuchte es. Es sei ihre Pflicht als Mutter, mich auf dieses oder jenes hinzuweisen, hörte ich sehr oft von ihr, was meistens darauf hinauslief, dass man immer möglichst viel und lange arbeiten müsse, das habe überhaupt noch keinem jungen Menschen geschadet. Noch später ermahnte sie mich aus gegebenem Anlass, man solle doch bitte in jenem Beruf arbeiten, in dem man schließlich lange genug ausgebildet worden sei, und nicht irgendwelchen anderen zweifelhaften Erwerbstätigkeiten nachgehen.
Aber leider musste ich sie im Laufe der Jahre immer wieder aufs Neue enttäuschen. Wenn ich nach anderthalb Jahrzehnten im Berufsleben zu einer Erkenntnis gekommen bin, dann zu dieser: Jeder sollte möglichst das tun, was er am besten kann und was er deshalb wahrscheinlich auch am liebsten tut. Wer sich dauerhaft verbiegt, nur um sich den Sachzwängen und Umständen zu beugen (oder gar den Erwartungshaltungen anderer), tut damit niemandem einen Gefallen, am wenigsten sich selbst und seiner Gesundheit. Und übrigens auch nicht seinen Mitmenschen. Die Herausforderung besteht allerdings darin, dass niemand nur von Luft und Liebe leben kann. Und so muss letztlich jeder, der nicht auf die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens warten will (was erstens noch ziemlich lange dauern kann und was man sich, zweitens, wenn es doch einmal kommen sollte, wohl eher als eine Art besseres Hartz 4 vorstellen kann), irgendwelche Kompromisse machen.
Für mich war allerdings schon nach Abschluss meiner Juristenausbildung ein Punkt erreicht, an dem ich mir einerseits die bange Frage stellte, was nun kommen würde, an dem ich aber andererseits auch immer lauter eine innere Stimme hörte, die eindringlich zu mir sprach: Es reicht! Im Referendariat hatte ich ja noch weitaus mehr gelitten als in der Uni. Dieses stupide Herumsitzen in Arbeitsgemeinschaften, dieses ewige Zittern vor dem nächsten Examen. Es fühlte sich alles für mich so völlig falsch an. Ich dachte immer nur: Ich muss hier raus! Raus und etwas ganz Neues anfangen. Das hier halte ich nicht länger aus. Warum habe ich mir das überhaupt so lange angetan? Ob die anderen um mich herum so ähnlich fühlten, weiß ich bis heute nicht genau. Wahrscheinlich hat auch ihnen nicht immer alles gefallen, aber sie nahmen es in Kauf, weil sie – im Gegensatz zu mir – entweder ein klares berufliches Ziel vor Augen oder einfach keine bessere Idee hatten, was sie sonst in ihrem Leben hätten anstellen sollen.
In den darauffolgenden Jahren machte ich dann die Erfahrung, dass der sinnvollste Ansatz in jeder „Karriereplanung“ die Selbsterkenntnis ist. Wer sich konsequent von Branchen (und Orten) fernhält, die ihm unsympathisch sind, hat sich schon mal jede Menge Stress und Ärger gespart – und in vielen Fällen auch gleich noch sehr viel Zeit, Kraft und Geld. Und wer sich stattdessen in Richtungen orientiert, die sich für ihn von Anfang an „gut anfühlen“, der wird dort wahrscheinlich weitaus eher sein Glück finden und damit auf lange Sicht sogar Erfolg haben. Nicht umsonst stand über dem Tempel des Orakels von Delphi: Gnothi seauton! Erkenne dich selbst!
Dein Johannes