„Der Traum vom Anderssein“, die 13. Platte der Alt-West-Berliner Underground-Combo „Mutter“
Thomas Claer
„Ein Kommentar von Sekundo auf spiegel.de. Soeben habe ich ‚Wer hat schon Lust, so zu leben‘ bei youtube über mich ergehen lassen. Ich bin studierter Musiker und entsetzt über eine derartig üble Combo, bei der nichts (in Buchstaben NIX) stimmt!! Verstimmte Gitarren, Temposchwankungen, ein “Sänger” der nicht singt, ein Trommler mit rhythmischen Fragezeichen, ein Gesamtsound, der nach Rausschmiss schreit. Dass diese Rumpel-Kapelle tatsächlich 50 Leute in ein Konzert lockt grenzt an ein Wunder. Und jeder, der diese Band lobt, outet sich als unseriös und inkompetent! Diese furchtbaren Dilettanten als “künstlerisch eigensinnig” zu bezeichnen ist bizarr bis unverschämt.“
Dieses Zitat schmückt die Homepage der Band „Mutter“. Und, hat dieser erboste strenge Musik-Experte denn nicht Recht? Doch, natürlich, aber das ist es ja gerade. „Mutter“ – das ist nicht feine, in sich stimmige Akkuratesse, sondern rohe Urgewalt. Manchmal brachial, meistens schwer und langsam, immer irgendwie bedrohlich. Oder sagen wir: fast immer. Schließlich stehen sie auch für Unberechenbarkeit: Ihr meistverkauftes Album „Hauptsache Musik“ aus den Neunzigern enthält völlig mutteruntypische Folk-Songs. Und zu „Mutters“ Geniestreichen zählt auch eine Fritz-Lang-Stummfilm-Vertonung („Der müde Tod“ von 1921). „Mutter“ schaffen Atmosphäre – und sperrige deutschsprachige Texte, die ihnen einen dauerhaften Ehrenplatz in der Welt des Diskurs-Pops eingebracht haben. (Ihr Debüt-Album trägt den vielsagenden Titel: „Ich schäme mich Gedanken zu haben, die andere Menschen in ihrer Würde verletzen“)
Tief verwurzelt in der Westberliner Gegenkultur der Achtzigerjahre – Band-Leader Max Müller gehörte sogar zur Urbesetzung der legendären „Tödlichen Doris“ um seinen Bruder Wolfgang Müller – haben sie sich ihre Eigenartigkeit über zahlreiche Alben bis heute bewahrt. Den Beweis dafür liefert einmal mehr ihre neue Platte, es ist die inzwischen 13., „Der Traum vom Anderssein“. Sie ist musikalisch recht abwechslungsreich geraten, sehr rockige und manchmal sogar schnelle Stücke („Glauben nicht wissen“) kontrastieren mit einigen überraschend sanften Darbietungen („So bist Du“). Und die Songtitel wie auch Max Müllers gleichsam aus sich herausgeschleuderte Textfetzen („Menschen werden alt und dann sterben sie“) laden ein zu immer neuen Assoziationen. Diese Band lebt ihn, den „Traum vom Anderssein“, vom Anderssein als all die glattgebügelten Mainstream-Kollegen insbesondere. Alles in allem also wieder ein erfreulich unverkennbares „Mutter“-Album. Das Urteil lautet: voll befriedigend (11 Punkte).
Mutter
Der Traum vom Anderssein
DEG 2017
€ 21,90 (Vinyl) bzw. 17,90 (CD) zzgl. Versandkosten bei Hanseplatte
http://muttermusik.de/