Der verhinderte Bundeskanzler

Deutsche Juristenbiographien, Teil 15: Dr. iur. Rainer Barzel (1924–2006)

Matthias Wiemers

Ein bewegtes Leben führt den gebürtigen Ostpreußen ganz in den Westen des ehemaligen Preußen – und dann über die unterschiedlichsten politischen Ämter bis kurz vor die Schranken des Kanzleramts. Rainer Barzel wird als Sohn eines Studienrats am 20. Juni 1924 in Braunsberg, Ostpreußen, geboren. 1931 wird der Vater zum Oberstudienrat befördert und nach Berlin versetzt, zu einer Art Vorläuferin der heutigen Kultusministerkonferenz. Nach dem Not-Abitur an einem Charlottenburger Gymnasium Ende 1941 erfolgt die Einberufung zur Wehrmacht, genauer zur Marine-Fliegerei, wo er zum Teil als Ausbilder auf einer Marine-Kriegsschule „Lufttaktik“ unterrichtet. Bei Kriegsende verlobt er sich in Rendsburg mit einer zweifach ausgebombten jungen Kölnerin und folgt ihr sodann in das zerstörte Köln. Der Schwiegervater, Besitzer einer Drogerie, bestimmt Barzel zum Jurastudium, das dieser noch im Jahre 1945 aufnimmt. Noch während des Studiums von Recht und Volkswirtschaftslehre veröffentlich Barzel 1947 sein erstes Buch, dem noch zahlreiche folgen werden: „Die geistigen Grundlagen der politischen Parteien“, in dem sich der Katholik Barzel für die Wiedererrichtung der Zentrumspartei stark macht. Bereits als Student ist er ferner intensiv journalistisch tätig und setzt sich mit den brennenden Tagesfragen auseinander. Er wird aktiv im katholischen „Bund Neudeutschland“, wo er u. a. den späteren CDU-Sozialpolitiker Hans Katzer kennenlernt, und engagiert sich auch in weiteren christlichen Organisationen. Barzel entwickelt sich zugleich zum Juristen, Politiker und politischen Publizisten und nimmt dabei aktiv Kontakt zu christdemokratischen Politikern der ersten Stunde auf. Nachdem Barzel längere Zeit eher dem wiederbegründeten Zentrum zugeneigt ist, tritt er 1952 dann der neuen christdemokratischen Partei CDU bei.
An der Universität hört Barzel bei bedeutenden Lehrern nicht nur der Rechtswissenschaft (u. Hans-Carl Nipperdey), sondern auch der Wirtschaftswissenschaften (Günter Schmölders). Schon während des Studiums findet Barzel zu seinem Lehrer Ernst von Hippel, der Staatsrecht und Rechtsphilosophie lehrt. Am 23. Februar 1949 besteht er die Erste Staatsprüfung mit „gut“, am 14. Dezember die Doktorprüfung mit „magna cum laude“. Titel der Arbeit: Die verfassungsrechtliche Regelung der Grundrechte und Grundpflichten des Menschen“. Kurze Überlegungen über eine Habilitation werden – wegen zunehmender Beanspruchung in Journalismus und Politik – verworfen. Barzel nimmt noch während des Studiums eine Einladung nach Großbritannien an, wo er 1947 in der an ein Kriegsgefangenenlager angeschlossenen Bildungsstätte Wilton Park an Seminaren zur Umerziehung der deutschen Jugend teilnimmt. Hierzu lädt die für das Rheinland zuständige Britische Besatzungsmacht auch junge Deutsche aus ihrer Besatzungszone ein. Im Rahmen seines Besuchs darf Barzel einen politischen Rundfunkvortrag zur Zukunft Deutschlands in der BBC halten.
Für ein Referendariat bleibt Barzel keine Zeit: Noch 1948 wird er angefragt, in die Verwaltung des Wirtschaftsrats für das vereinigte Wirtschaftsgebiet der Bizone in Frankfurt am Main einzutreten. Dienstbeginn ist bereits der 1. Januar 1949. Barzel pendelt zwischen Frankfurt, Düsseldorf und Köln hin und her. Die Vertretung des neuen Bundeslandes Nordrhein-Westfalen zieht Anfang des Jahres 1949 von Frankfurt in die neue Bundeshauptstadt Bonn. Inzwischen CDU-Mitglied und mit 30 Jahren schon Ministerialrat, übernimmt Barzel 1956 die Geschäftsführung des Landespräsidiums der CDU NRW und wird 1957 erstmals in den Deutschen Bundestag gewählt. Nach der Wiederwahl 1961 wird Barzel 1962 erstmals Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen, muss das Amt aber schon ein Jahr später – beim Wechsel zu Bundeskanzler Ludwig Erhard – an den FDP-Vorsitzenden Erich Mende abgeben. Im Anschluss daran wird Barzel zunächst kommissarischer Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, ein weiteres Jahr später ordentlicher Fraktionsvorsitzender, 1971 auch Bundesvorsitzender der CDU und 1972 Kanzlerkandidat der Union. Nach der Bundestagswahl, nachdem mehrere Abgeordnete der Regierungsfraktionen von SPD und FDP zur Union gewechselt sind, verfügt die Union über eine rechnerische Mehrheit. Barzel versucht nun, sich über ein konstruktives Misstrauensvotum zum neuen Bundeskanzler wählen zu lassen, was scheitert. Bis heute ist unklar, warum offenbar mehrere Unionsabgeordnete Barzel die Unterstützung verweigern.
Wieder ein Jahr später legt Barzel Partei- und Fraktionsvorsitz nieder und wird neben seinem Bundestagsmandat wissenschaftlicher Mitarbeiter in einer Frankfurter Anwaltskanzlei
Nach der „Wende“ 1982 wird Barzel nochmals für ein halbes Jahr Bundesminister für Innerdeutsche Beziehungen und dann – nach der vorgezogenen Bundestagswahl 1983 – Bundestagspräsident. Im Zuge der Parteispendenaffäre („Flick-Affäre“) tritt Barzel im Oktober von diesem Amt zurück und kandidiert 1987 nicht wieder für den Deutschen Bundestag. Rainer Barzel bleibt publizistisch tätig und stirbt, nach langer, schwerer Krankheit im August 2006 in München.

Quelle: Rainer Barzel, Ein gewagtes Leben. Erinnerungen, Stuttgart 2001

Veröffentlicht von on Okt. 16th, 2017 und gespeichert unter DRUM HERUM, RECHT HISTORISCH. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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