Europarecht monumental erfasst

Der erste Band des „Frankfurter Kommentars“ zum Europarecht

Matthias Wiemers

Frankfurt an der Oder ist eine alte Universitätsstadt. Die alte Brandenburgische Universität bestand von 1506 bis 1811, die 28.000 Bände umfassende Bibliothek wurde nach Aufhebung der Hochschule ausgerechnet nach Breslau verbracht, deren Universität damit in gewisser Weise als eine Nachfolgerin dieser Hochschule angesehen werden kann.
Die im Jahre 1991 neugegründete und wie die alte „Viadrina“ genannte Universität in Frankfurt weiß sich neben der deutsch-polnischen Zusammenarbeit auch der europäischen Integration verbunden. Kulturwissenschaften, Wirtschaftswissenschaften und Rechtswissenschaften sind die Fachbereiche, die diesen Zielen gewidmet sind, und bei nicht einmal 7000 Studierenden verfügt sie allein über 20 juristische Lehrstühle, von denen drei ausdrücklich dem polnischen Recht gewidmet sind.
Drei Vertreter des Öffentlichen Rechts – Matthias Pechstein, Carsten Nowak und Ulrich Häde – haben es nun unternommen, die drei Verträge des EU-Primärrechts, also EUV, Grundrechtecharta und AEUV, einer ausführlichen Kommentierung zu unterziehen. Hierbei wurden sie durch insgesamt 53 Kollegen vornehmlich aus der Wissenschaft, aber vereinzelt auch aus der Gerichtsbarkeit und den Parlamentarischen Diensten in Berlin und Brüssel unterstützt. Bei den Hochschulen sind nicht nur die klassischen Universitäten vertreten und auch nicht nur Ordinarien, sondern auch Wissenschaftliche Mitarbeiter, nicht nur Vertreter des Öffentlichen Rechts, sondern auch anderer Teilrechtsgebiete.
Der erste von insgesamt vier Bänden des neuen Kommentars, der ausgestattet ist wie etwa der GG-Kommentar von Dreier, enthält den EU-Vertrag und die Grundrechtecharta.
Mitherausgeber Carsten Nowak hat beide in diesem Band enthaltene Präambeln kommentiert. Er hebt in der Kommentierung der ersten Präambel zunächst die Veränderungen in den Präambeln gegenüber dem Verfassungsvertrag hervor und erläutert sodann die Präambel des EUV auch anhand der ihr zugehörigen Erwägungsgründe, über deren Entwicklungsgeschichte er ebenfalls informiert. Wie die jetzige EU entstanden ist, wird nicht in einem Vorspann über die Geschichte der Union referiert, sondern wird – ebenfalls durch Nowak – im Rahmen der Kommentierung des Art. 1 EUV berichtet, weil Abs. 2 dieser Vorschrift von einer „neuen Stufe“ der Entwicklung einer immer engeren Union der Völker Europas spricht.
Jörg-Philipp Terhechte hat Art. 2 über die Werte der Union kommentiert. Er unternimmt nicht nur den Versuch einer Systematisierung dieser Bestimmung auch anhand der bisherigen Rechtsprechung des EuGH, sondern wagt auch einen „Ausblick“, in dem er feststellt, dass es „ohne Kompassbestimmungen oder Fundamentalnormen zusehends schwierig werde, die raison d´étre der EU jenseits von Fragen der Wirtschafts- und Währungspolitik auszumachen“.(Rdnr. 31)
Schon umfangreicher ist die Darstellung der Ziele der Union (Art. 3) durch Peter-Christian Müller-Graff. Hier erfährt auch, welche grundlegenden Pflichten Union und Mitgliedstaaten zukommen (Rdnr. 49 ff.) und fragt sich dann freilich sogleich, ob diese Vorgaben von den europapolitischen Akteuren wirklich gelesen werden.
Nochmals detaillierter fällt die Darstellung der föderativen Grundsätze in Art. 4 durch Claudio Franzius aus, der sich hierfür auf eine umfangreiche Rechtsprechung von EuGH und nationalen Verfassungsgerichten stützen kann. Franzius geht hier etwa auf die aktuelle Problematik der Flüchtlingskrise ein und zeigt die Grenzen eines Selbsteintrittsrechts der Mitgliedstaaten in Fragen der Grenzsicherung auf (Rdnr. 111).
Eckhard Pache hat den ebenfalls zentralen Art. 5 über die Zuständigkeitsverteilung kommentiert. Hierin findet sich zugleich eine Erläuterung der Möglichkeiten, gegen angenommene Kompetenzüberschreitungen der EU vorzugehen. Pache hat auch Art. 6 über die Einbeziehung von Grundrechte-Charta und EMRK sowie Art. 51-54 GrCh kommentiert.
Artikel 7 EUV Eröffnet die Möglichkeit, gegen Mitgliedstaten vorzugehen, die gegen die Werte des Art. 2 verstoßen. Diese Vorschrift wurde von Nowak erläutert, der hier eine knappe Darstellung dieser europapolitisch mindestens so bedeutsamen Vorschrift wie Art. 5 vornimmt. Artikel 8 über die Nachbarschaftspolitik wurde von Marten Breuer bearbeitet, womit der erste Titel abgeschlossen ist.
Der gesamte Titel II über die demokratischen Grundsätze wurde von Sebastian Heselhaus von der Universität Luzern (!) bearbeitet (Art. 9, Gleichheit, Unionsbürgerschaft; Art. 10, Demokratische Grundsätze; Art. 11, Bürgerbeteiligung; Art. 12, Beitrag der nationalen Parlamente), während Titel III mit den Bestimmungen über die Organe wieder zwischen verschiedenen Autoren aufgeteilt wurde: Carsten Nowak kommentiert Art. 13 mit seiner Aufzählung der Organe der Union, Peter Szczekalla behandelt das Europäische Parlament (Art. 14), Andreas Haratsch den Europäischen Rat (Art. 15) und auch den Rat (Art. 16), sowie die Kommission (Art. 17). Der Frankfurter Völkerrechtler Wolff Heintschel von Heinegg behandelt den Hohen Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik (Art. 18), Pechstein und Philipp Kubicki den Gerichtshof der Europäischen Union (Art. 19).
Titel IV über eine Verstärkte Zusammenarbeit wurde von Haratsch (Art. 20) und der gesamte Titel V über das auswärtige Handeln und die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik vollständig durch Heintschel von Heinegg bearbeitet (Art. 21 – 46).
Von den auf mehrere Autoren verteilte Artikel des Titels VI über die Schlussbestimmungen weckt freilich aufgrund der jüngeren Ereignisse und Erwartungen Art. 50 besonderes Interesse. Szczekalla ordnet hier zunächst den Streitstand und wirft sodann die unterschiedlichen Fragen auf, die sich an der das Austrittsrecht aus der EU erstmals ausdrücklich regelnden Vorschrift knüpfen. Da nicht alle Kommentierungen eine abschließende Bewertung durch den Bearbeiter enthalten, sei die hiesige hervorgehoben. Szczekalla kritisiert die Verfahrenslastigkeit der Vorschrift, betont jedoch ihren Vorteil, der darin bestehe, dass es nun immer eine alternative zu dem gebe, was „die in Brüssel“ beschlossen habe – und leitet daraus eine Tendenz zur Stärkung der Legitimation des Unionsrechts ab. Denken wir jedoch an die allerjüngsten Ereignisse in Katalonien, dann mutet der letzte Absatz prophetisch an: „Schließlich könnte sich auch ein europaweiter Trend zur Verkleinstaatlichung als Folge des Austritts etwa des Vereinigten Königreichs ergeben“, und verweist sodann auf die bereits geäußerten Überlegungen der Schotten, der EU gesondert beizutreten.
In der Kommentierung der Grundrechte-Charta haben Walter Frenz die Würde des Menschen (Art. 1) und das Recht auf Leben (Art. 2),das Verbot von Sklaverei und Zwangarbeit (Art. 5), Heselhaus das Recht auf Unversehrtheit (Art. 3), Carmen Thiele das Folterverbot (Art. 4) die Gedanken- Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 10), die Freiheit der Meinungsäußerung und die Informationsfreiheit (Art. 11), die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Art. 12), die Freiheit der Kunst und der Wissenschaft (Art. 13), das Recht auf Bildung (Art 15), das Asylrecht (Art. 18), den Schutz bei Abschiebung, Ausweisung und Auslieferung (Art. 19) sowie Heinrich
Amadeus Wolff das Recht auf Freiheit und Sicherheit (Art. 6), das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 7), den Schutz personenbezogener Daten (Art. 8), das Recht, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen (Art. 9), Jürgen Kühling die Berufsfreiheit und das Recht zu arbeiten (Art. 15), die unternehmerische Freiheit (Art. 16) und das Eigentumsrecht (Art. 17) kommentiert.
Unter den Gleichheitsrechten hat Heselhaus die Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 20), Walter Michl das Diskriminierungsverbot (Art. 21) und Carmen Thiele das Grundrecht der Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen (Art. 22), die Rechte des Kindes (Art. 24), Gerard C. Rowe die Gleichheit von Männern und Frauen (Art. 23), Nowak die Rechte älterer Menschen (Art. 25) kommentiert.
Titel IV über „Solidarität“, der tief in die Privatautonomie hineinreicht, enthält Kommentierungen von Eva Kocher (Art. 27. Recht auf Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Unternehmen“, Art. 28: „Recht auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen“, Art. 29: „Recht auf Zugang zu einem Arbeitsvermittlungsdienst“, Art 30: Schutz bei ungerechtfertigter Entlassung“, Art. 31. Gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen“, Art. 32: Verbot der Kinderarbeit und Schutz der Jugendlichen am Arbeitsplatz“, Art. 33: „Familie und Berufsleben“, Art. 34: „Soziale Sicherung und soziale Unterstützung“), Markus Krajewski (Art. 35: Gesundheitsschutz“, Art. 36: „Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“, Heselhaus (Art. 37: „Umweltschutz“), Martin Schmidt-Kessel (Art. 38 „Verbraucherschutz“ kommentiert.
Titel V (Bürgerrechte“) wird kommentiert von Heselhaus (Art. 39: „Aktives und passives Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament“, Art. 40: Aktives und passives Wahlrecht bei den Kommunalwahlen“, Art. 42: „Recht auf Zugang zu Dokumenten“, Art. 43: „Der Europäische Bürgerbeauftragte“, Art. 44: „Petitionsrecht“, Art. 45: „Freizügigkeit und Aufenthaltsrecht“, Art. 46: „Diplomatischer und konsularischer Schutz“)), Terhechte (Art. 41: „Recht auf eine gute Verwaltung“),
Titel VI über Justizielle Rechte wurde bearbeitet von Hanns Peter Nehl (Art. 47: „Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht“), Rainer Schröder (Art. 48: Unschuldsvermutung und Verteidigungsrechte“, Art. 49: „Grundsätze der Gesetzmäßigkeit und der Verhältnismäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen“), Gudrun Hochmayr (Art. 50: „Recht, wegen derselben Straftat nicht zweimal strafrechtlich verfolgt oder bestraft zu werden“)
Pache hat schließlich Titel VII über Allgemeine Bestimmungen über die Auslegung und Anwendung der Charta (Art. 51 bis 54) kommentiert.
Namentlich derjenige, der sich ständig mit europäischen Primärrecht befasst, mag nun schon anhand allein der Titel ersehen, wie umfangreich, wie sprachlich bedenklich und wie stark in die private, nämlich die unternehmerische Sphäre eindringend sich die Grundrechtecharta darstellt. Gleichzeitig zeigen uns die Internetgiganten jeden Tag, wie wichtig es ist, staatliche Gewährleistungen gegen diese in Stellung zu bringen. Umso wichtiger erscheint eine durchgehend sprachlich ansprechende, sich nicht sklavisch an Schemata haltende Kommentierung auch der EU-Grundrechtecharta, die in Band I des neuen Kommentars auch sogleich in die Nachbarschaft des EUV gestellt wird.
Auch die Kommentierung des EUV kann man nur als gelungen bezeichnen. Herausgebern und Verlag kann zudem Zuversicht unterstellt werden, weil die Bände nicht nur geschlossen, sondern auch einzeln angeboten werden
Wer beruflich ständig mit Europarecht und Europapolitik zu tun hat, dem kann der Band uneingeschränkt empfohlen werden. Der „Viadrina“ sei der Erfolg des Projekts besonders gewünscht.

Matthias Pechstein/ Carsten Nowak/ Ulrich Häde (Hrsg.), Frankfurter Kommentar zu EUV, GRC, AEUV, Band I: EUV, GRC, XXXVII 1735 + 107 S., 219 Euro (ISBN 978-3-16-155044-7)

Veröffentlicht von on Dez. 4th, 2017 und gespeichert unter BESPRECHUNGEN, LITERATUR. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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