Ein Film- und Diskussionsabend in Berlin-Charlottenburg
Thomas Claer
Gestern im „Haus am Mierendorffplatz“. Der kleine Raum ist rappelvoll. Auf der Leinwand läuft ein Dokumentarfilm aus den Achtzigern. Hier, rund ums nahe gelegene Landgericht Berlin am Tegeler Weg, wurde Rechtsgeschichte geschrieben. Damals, vor fünfzig Jahren, tobte dort die legendäre „Schlacht am Tegeler Weg“. Während im Gericht über die Aberkennung der Anwaltszulassung des damaligen Apo-Anwalts Horst Mahler wegen „Unwürdigkeit“ gestritten wurde (er hatte zuvor an einer Demonstration gegen die Springer-Presse teilgenommen), hatten sich draußen hunderte Studenten und Sympathisanten versammelt und lieferten sich eine wilde Straßenschlacht mit der Polizei. Am Ende standen 130 verletzte Polizisten. Einige der damaligen Demonstrationsteilnehmer sind anwesend, auch die Regisseurin des gezeigten Films. Nur leider fehlt Alt-Aktivist und Linksanwalt Hans-Christian Ströbele, mittlerweile 79. Zunächst hatte er seine Teilnahme zugesagt, musste dann aber leider doch aus gesundheitlichen Gründen passen. Bei der letzten Großdemo gegen den Mietenwahnsinn sei er noch dabei gewesen, heißt es.
Überhaupt besteht das Publikum hauptsächlich aus rüstigen Siebzigern, die in der anschließenden munteren Diskussion genüsslich in ihren Erinnerungen schwelgen. Die große Streitfrage ist mal wieder, wie schon im Dokumentarfilm, wie denn der LkW mit den Pflastersteinen, die später von den Demonstranten auf die Polizisten geworfen wurden, durch die Absperrungen der Polizei gelangen konnte. Zwei Theorien habe es damals gegeben: Verfassungsschutz und CIA. Demgegenüber zitiert ein Anwohner die Meinung seiner Nachbarin: In den Straßen seien doch damals überall die Straßenbahnschienen abmontiert und Pflastersteine aus den Straßen in LkWs verladen worden. Nein, widerspricht ein anderer, die besagten Steine seien doch viel größer gewesen, das habe man im Film doch deutlich erkennen können. Und ein Dritter berichtet, dass ein Polizist sogar zugegeben habe, als „agent provocateure“ gehandelt zu haben, doch den lassen wiederum andere nicht als zuverlässigen Zeugen gelten. Nein, diese Frage ist wohl einfach nicht mehr abschließend zu klären…
Eine Anekdote reiht sich an die nächste. Ein Herr im Pullover berichtet, wie er damals in der S-Bahn von Bauarbeitern angespuckt worden sei, die ihn als „Scheiß-Student“ beschimpften. Auch die Straßenbauarbeiter vor Ort hätten wohl übelste Beleidigungen in Richtung der Demonstranten gerufen. 90 Prozent der Zeitungslandschaft war Springer-Presse. Und die habe gehetzt, was das Zeug hielt. Ja, so war das damals. Eine aufregende Zeit sei das gewesen, da sind sich alle einig. Aber wie ist es denn heute? Doch eigentlich fast genauso aufregend! Und nun gehen die Meinungen munter auseinander. Die Gelbwesten in Frankreich? Ganz großartig, finden die einen. Oh nein, echauffieren sich die anderen. Und Rechts und Links lägen manchmal eben doch dicht beieinander, das sähe man doch an Horst Mahler, damals linker Apo-Aktivist, heute wegen mehrfacher Volksverhetzung verurteilter Rechtsextremist. Und in Frankreich stünden Rechte und Linke schon Seite an Seite, in Italien und Griechenland koalierten sie miteinander. Nein, das machen wir nicht mit, protestieren mehrere ältere Damen. Keine Gleichsetzung von Rechts- und Linksradikalismus! Das sei doch ein himmelweiter Unterschied! Am Ende bleibt die Erkenntnis, dass die Diskussionsfreude der Aktivisten von einst auch nach 50 Jahren noch kaum nachgelassen hat und dass politisches Temperament wohl auch keine Frage von Alt oder Jung ist.